LES ADIEUX
Halblauter Falter der Sehnsucht:
es trommelt die Nacht an die Kelche der Tulpen
und alternde Wolken sind Wein!
Was soll mein Blut nun?
Tauben und Tau
waren Leben.
Tauben und Tau sind auch Tod...
(Ach Gräser, ihr Stengel der Sterne
was für ein Wind reißt euch fort?)
(Paul Celan, Das Frühwerk, Edition 1989)
DIE EINE
DIE EINE eigen-
sternige
Nacht.
Aschendurchfadmet
stundaus, stundein,
von den Lidschatten zu-
gefallener Augen,
zusammenschgeschliffen
zu pfeildünnen
Seelen,
verstummt im Gespräch
mit luftalgenbärtigen
krauchenden Köchern.
Eine erfüllte
Leuchtmuschel fährt
durch ein Gewissen.
(Paul Celan, aus: >Fadensonnen<; 31.03. - 01.04. 1967;)
Nachts, wenn das Pendel der Liebe schwingt
zwischen Immer und Nie,
stößt dein Wort zu den Monden des Herzens
und dein gewitterhaft blaues
Aug reicht der Erde den Himmel.
Aus fernem, aus traumgeschwärztem
Hain weht uns an das Verhauchte,
und das Versäumte geht um, groß wie die Schemen der Zukunft.
Was sich nun senkt und hebt,
gilt dem zuinnerst Vergrabnen:
blind wie der Blick, den wir tauschen,
küßt es die Zeit auf den Mund.
[Paul Celan; aus: >Mohn und Gedächtnis<]
ERINNERUNG
Wie waren die Hände? Ich weiß es nicht mehr.
Sie griffen nach Tulpen. So fanden sie her.
Bis die Tulpen ein Beben befiel.
Da schreckten sie leise zurück in die Nacht.
Seither hat mein Herz bei den Tulpen gewacht.
Doch vergaß ich ihr Fingerspiel.
Doch wie war ihr Haar? Ich weiß es noch kaum.
Sie sagten zuweilen, es sei wie ein Traum.
So ließ ich es über mich wehn.
Doch seit mein Kummer schwer darin hing,
nahm sie es schwebend zurück aus dem Ring.
Ich mag keine Wälder mehr sehn.
Und wie war ihr Herz? Ich wußte es nie.
Bis einmal bei Nacht ein Fremder drin schrie.
Den löscht sie mit Tränen aus.
Da ging ich zurück zu den Erlen hin.
Der Weg war aus Glas wie zu Anbeginn.
Und ich baute aus Dunkel dein Haus.
[Paul Celan; aus: >Das Frühwerk<]
MIT WECHSELNDEM SCHLÜSSEL
Mit wechselndem Schlüssel
schließt du das Haus auf, darin
der Schnee des Verschwiegenen treibt.
Je nach dem Blut, das dir quillt
aus Aug oder Mund oder Ohr,
wechselt dein Schlüssel.
Wechselt dein Schlüssel, wechselt das Wort,
das treiben darf mit den Flocken.
Je nach dem Wind, der dich fortstößt,
ballt um das Wort sich der Schnee.
[Paul Celan; aus: >Von Schwelle zu Schwelle<]
STEHEN IM SCHATTEN
STEHEN, im Schatten
des Wundenmals in der Luft.
Für-niemand-und-nichts-Stehn.
Unerkannt,
für dich
allein.
Mit allem, was darin Raum hat,
auch ohne
Sprache.
[Paul Celan; aus: >Atemwende<]
WIR LAGEN
schon tief in der Macchia, als du
endlich herankrochst.
Doch konnten wir nicht
hinüberdunkeln zu dir:
es herrschte
Lichtzwang.
[Paul Celan; aus: >Lichtzwang<]
Nicht aufgenommene Gedichte
...und hagelte an mir umher.
ICH FRAG den Schotter ab: kein Meer rings, keins.
Wie kann das Auge fortgeschwommen sein?
Worin? Wohin?
EIN TEIL aller Teile sein,
in der Größeren Zerstreuung,
zerheiligt, zerweiligt,
zernut.
GRAUMANNS WEG,
in Zürich erinnert,
Graumanns Abweg.
Entschwiegenes, warum
leb ich?
[Paul Celan; aus: Zeitraum >Lichtzwang<; Nicht aufgenommene Gedichte]
Mohn und Gedächtnis
WIE SICH DIE ZEIT VERZWEIGT
Wie sich die Zeit verzweigt,
das weiß die Welt nicht mehr.
Wo sie den Sommer geigt,
vereist ein Meer.
Woraus die Herzen sind,
weiß die Vergessenheit.
In Truhe, Schrein und Spind
wächst wahr die Zeit.
Sie wirkt ein schönes Wort
von großer Kümmernis.
An dem und jenem Ort
ists dir gewiß.
[Paul Celan; aus: Verstreute Publikationen aus dem Zeitraum >Mohn und Gedächtnis<]
Mohn und Gedächtnis
TALGLICHT
Die Mönche mit haarigen Fingern schlugen das Buch auf: September.
Jason wirft nun mit Schnee nach der aufgegangenen Saat.
Ein Halsband aus Händen gab dir der Wald, so schreitest du tot
übers Seil.
Ein dunkleres Blau wird zuteil deinem Haar, und ich rede von Liebe.
Muscheln red ich und leichtes Gewölk, und ein Boot knospt im Regen.
Ein kleiner Hengst jagt über die blätternden Finger -
Schwarz springt das Tor auf, ich singe:
Wie lebten wir hier?
[Paul Celan; aus: Mohn und Gedächtnis]
Von Schwelle zu Schwelle
DER GAST
Lange vor Abend
kehrt bei dir ein, der den Gruß getauscht mit dem Dunkel.
Lange vor Tag
wacht er auf
und facht, eh er geht, einen Schlaf an,
einen Schlaf, durchklungen von Schritten:
du hörst ihn die Fernen durchmessen
und wirfst deine Seele dorthin.
[Paul Celan; aus: Von Schwelle zu Schwelle]
An den Toren
DRÜBEN
Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.
Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen
und irgendwer steht auf dahier...
Den will er über die Kastanien tragen:
"Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!
Erst jenseits der Kastanien ist die Welt..."
Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun,
dann halt ich ihn, dann muss er sich verwehren:
ihm legt mein Ruf sich ums Gelenk!
Den Wind hör ich in vielen Nächten wiederkehren:
"Bei mir flammt Ferne, bei dir ist es eng..."
Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun.
Doch wenn die Nacht auch heut sich nicht erhellt
und wiederkommt der Wind im Wolkenwagen:
"Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!"
Und will ihn über die Kastanien tragen -
dann halt, dann halt ich ihn nicht hier...
Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.
[Paul Celan; aus: Der Sand aus den Urnen; An den Toren]