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FREMDERFAHRUNG als APPRÄSENTATION
Zur V. Cartesianischen Meditation
Thomas Buchhas
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INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
§1 Die V. Cartesianische Meditation – Objektivitätskonstitution
§2 Von der noematisch-ontischen Gegebenheitsweise des Anderen zur
apperzeptiven Konstitution des alter ego
§ 3 Die „primordiale“ Reduktion
§ 4 Fremderfahrung als Appräsentation
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die Frage wie es kommt, dass wir in der natürlichen Welterfahrung stets von einer „gemeinsamen“ Welt ausgehen und auf dieselbe zurückkommen, dass wir, unangesehen der je subjektiv unterschiedlichen Zugänge zur „einen Welt“, von der „Objektivität“ derselben überzeugt sind, des Weiteren, dass das natürliche Bewusstsein von der Transzendenz der an-sich-seienden Welt und der Gegenstände in ihr unhinterfragt überzeugt ist, nötigt zur Frage nach der „Konstitution“ dieser im natürlichen Bewusstsein geltenden Einheiten. Für die Phänomenologie darf jene vermeinte Transzendenz nicht dogmatisch angesetzt werden, sondern sie hat aufzuklären wie die Überzeugung von der Subjekt-Irrelativität der transzendenten Welt im Felde der transzendentalen Subjektivität zu Stande kommt. Wenn weiters die Aussagen und Erkenntnisse der Phänomenologie Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, wird die Frage nach der „Inter-Subjektivität“ zu einer Kernfrage der Phänomenologie selbst. Objektiv in diesem Sinne ist etwas, was nicht nur von mir eingesehen werden kann, sondern grundsätzlich den Anderen als Anderen, das Mit-Subjekt als Mit-Subjekt voraussetzt. Erst der „Andere“ garantiert mir als Anderer, dass die Welt nicht nur für mich besteht, sondern sich über den Status des bloß Eigenheitlichen oder, wie Husserl auch sagt, der bloß primordialen Sphäre, objektiv erhebt und damit den Seins-Sinn „Objektivität“ erhält. Objektivität wird in diesem Sinne durch die „Fremd-Erfahrung“ ermöglicht und konstituiert. Dieser Konstitutions-Leistung der transzendentalen Subjektivität wollen wir ein Stück weit nachgehen. Eine wesentliche Rolle bei der Fremd-Konstitution kommt dabei dem Apperzeptions-Appräsentations-Modell, wie es Husserl schon für die Gegenstands-Konstitution entworfen hat, zu. Dieses Modell wir in Ansehung der Fremd-Konstitution expressis verbis in der V. Cartesianischen Meditation zur Anwendung gebracht. Jeder „weltlichen Objektivität“ geht daher die „transzendentale Intersubjektivität“ voran. Diese ist das an sich „erste Sein“, jene aber wird durch diese ermöglicht, konstituiert. Daher müssen wir dem „an sich ersten Sein“ – der „transzendentalen Inter-Subjektivität“ - nachfragen.
§1 – Die V. Cartesianische Meditation – Objektivitätskonstitution
Die V. Cartesianische Meditation (CM) ist überschrieben: Enthüllung der transzendentalen Seinssphäre als monadologische Intersubjektivität.[1] Mit der transzendentalen Seinssphäre ist jene Überzeugung angesprochen, „…dergemäß das als seiend Bewußte unabhängig von den darauf gerichteten Bewußtseinsvollzügen „an sich“ oder „objektiv“ besteht und in diesem Sinne das Bewußtsein transzendiert“.[2] In diesem Sinne ist die Phänomenologie Husserls „Transzendentalphilosophie“, insofern sie sich verpflichtet, das als fraglos vorausgesetzte Bewusstsein von einer „objektiven“ und „an sich seienden“ Welt im Sinne einer Konstitutionstheorie der Subjektivität aufzuklären. Diese als „bewusstseins-unabhängig“ vermeinte Seinssphäre wird als „monadologische Intersubjektivität“ enthüllt; m.a.W.: Der Seinssinn „Objektivität“ konstituiert sich mittels der noch genauer auszuführenden „monadologischen Intersubjektivität“. Transzendentes Sein: Damit spricht Husserl eine Erfahrung an, die wir in unserer alltäglichen Erfahrung ständig – unhinterfragt - voraussetzen; eine Erfahrung, die Husserl in den Ideen I wie folgt charakterisiert: „All das, was von mir selbst gilt, gilt auch, wie ich weiß, für alle anderen Menschen, die ich in meiner Umwelt vorhanden finde. Sie als Menschen erfahrend, verstehe und nehme ich sie hin als Ichsubjekte, wie ich selbst eins bin, und als bezogen auf ihre natürliche Umwelt. Das aber so, daß ich ihre und meine Umwelt objektiv als eine und dieselbe Welt auffasse, die nur für uns alle in verschiedener Weise zum Bewußtsein kommt. […] Bei all dem verständigen wir uns mit den Nebenmenschen und setzen gemeinsam eine objektive räumlich-zeitliche Wirklichkeit, als unser aller daseiende Umwelt, der wir selbst doch angehören.“[3] Diese im natürlichen Bewusstsein fraglos voraus-gesetzte eine (objektive) Wirklichkeit (transzendentes Sein) wird gerade da problematisiert werden müssen, wo es darum geht, nicht dogmatische Annahmen[4] vorauszusetzen, sondern die konstituierende Subjektivität in ihrer Konstitutionsleistung derselben einzubeziehen. Es geht nicht an, die Erfahrung des natürlichen Bewusstseins von einer an-sich seienden, vom Bewusstsein unabhängigen Wirklichkeit, dogmatisch zu verlängern, sondern es gilt aufzuzeigen, wie, in welchem Umfang und in welchen Weisen die transzendentale Subjektivität des Subjekts an der Objektivitätskonstitution beteiligt ist; m.a.W.: Wie kommt der Seinssinn „Objektivität“ und „an-sich-seiende-Wirklichkeit“ überhaupt zu Stande? Wie kommt es zu dieser für das natürliche Bewusstsein grundlegenden und unhinterfragten Grund-Erfahrung der einen „objektiven“ Wirklichkeit? Wenn wir in diesem Zuge weiterfragen, erhebt sich vorweg ein grundlegender Zweifel: Wie kann die Phänomenologie im Rahmen des transzendental reduzierten Ego[5] die transzendentalen Probleme überhaupt aufklären? Denn wenn nur mein eigenes Bewusstsein existiert und es mir unmöglich ist dasselbe zu transzendieren, dann ist der Impetus zu einer Phänomenologie als Transzendentalphilosophie a priori unmöglich. Alle konstituierten Einheiten[6] gehören nach Husserl zum je jeweiligen Ego selbst; sind von diesem nicht abtrennbar. Die Konstitution einer gegenständlichen Welt hat solange keine Schwierigkeit, als es ich hier um meine, um die „egologische Konstitution“ handelt. Nun gibt es aber auch andere „Ego´s“, die als die „Anderen“ diesen Sinn: Andere (Fremder) beibehalten müssen; sonst wären sie eben nicht die „Anderen“ oder die „Fremden“. Muss man nicht doch von einer „dogmatisch“ vorausgesetzten an-sich-seienden Wirklichkeit ausgehen, diese voraussetzen und Mittel und Wege aufzeigen, um zu derselben zu gelangen? Also hinter den Phänomenen doch die an-sich-seiende Wirklichkeit? Ich komme eben doch nicht, und das ist der Hauptzweifel, im Mindesten über meine transzendentale Erfahrungssphäre hinaus (hinaus zu einem Fremden, zu einem Anderen); denn, wenn sich eine ganze Welt in meiner transzendentalen Sphäre konstituiert, so handelt es sich eben um „meine“ konstituierten Einheiten – zum wirklichen Seienden, zur transzendenten Wirklichkeit, komme ich so in alle Ewigkeit nicht. So bleibt letztlich alles – das ist der Vorwurf – lediglich „Bewusstsein“. Der Solipsismusverdacht formuliert zwei Bedenken: 1. Der Andere als Anderer muss mehr sein als ein bloßes Konstitutionsprodukt meines Ego und 2. ist der Andere als der Andere gerade nicht zugänglich, sonst wäre er nicht der Andere; wie also soll fremde Subjektivität beschrieben werden können, da un-zugänglich?[7] Eines muss aber vorweg gesagt werden: Wie auch immer die Konstitution des alter ego ergründet wird, die Ausgangsstellung jedweder Konstitutionsanalyse hat auf dem „Boden unseres transzendentalen Ego“[8] zu beginnen, denn nur hier bekundet und bewährt sich nicht nur eine gegenständliche Welt, sondern auch das alter ego. Wenn mir in der natürlichen Welterfahrung Gegenstände als seiend gegeben sind, ebenso andere ego´s als in gleicher Weise einstimmig erfahrbar, so ist das für Husserl nur so möglich, dass in meiner phänomenologischen Sphäre, der transzendentalen, die Gegenstands-Konstitution schon ihr Werk leistet und geleistet haben muss. Das Unternehmen der Auslegung der Fremderfahrung ist deshalb von eminenter Bedeutung, weil in weiterer Folge „…die intersubjektiv-transzendentale Sozialität der Boden ist, auf dem alle Wahrheit und alles wahrhafte Sein ihre intentionale Quelle haben“.[9] Was wir mit Objektivität, mit Wirklichkeit und Transzendenz eigentlich meinen, das wird erst durch die Konstitution des alter ego erfahrbar. Es geht in der V. CM nicht in erster Linie um eine Konstitutionsanalyse des „Anderen“ als Anderen, sondern um „Objektivitätskonstitution“.
§ 2 – Von der noematisch-ontischen Gegebenheitsweise des Anderen zu apperzeptiven Konstitution des alter ego
Wie lässt sich nun ein konkreter Einblick in jene Intentionalitäten gewinnen, die das alter ego konstituieren? Gefordert ist ein „Leitfaden“, der unmittelbar zum Feld dieser Fremd-Konstitution führt. Dogmatisch kann hier aus phänomenologischen Gründen nichts vorausgesetzt werden. Der Anfang wird daher die natürliche Welterfahrung und in ihr die Erfahrung des Anderen sein; d.h. eine Besichtigung jener natürlichen Einstellung, in der wir uns zunächst immer aufhalten und die fraglos das An-sich-sein der „einen“ Welt voraussetzt (Generalthesis der natürlichen Einstellung, Ideen I, § 30). Wir erfahren die Dinge und die Anderen in der natürlichen Welteinstellung als an-sich-seiend, und zwar „geradehin“. Wir sind also auf Seiendes als solches gerichtet und das Perspektivische der Gegebenheit, dass Seiendes je nur in einer Abschattung tatsächlich präsent ist, dieses bleibt im Schatten, m.a.W. „unthematisch“. Der „Geradehin-Gehalt“ der natürlichen Erfahrung – gerade auch des Anderen – zeigt sich mir in seinem ontisch-noematischen Gehalt. Ontisch besagt hier ganz allgemein: Seiendes. Die „noematische“ Implikation zeigt hier schon den phänomenologischen Sachverhalt des „Gegenstand-seins-im-Wie-seiner-Gegebenheit“ an.[10] So erfahre ich die „Anderen“ als Weltobjekte[11] (als „weltendes“ Objekt), aber auch als bloße Naturdinge (z.B. der tote Körper). Ich erfahre weiters die anderen als „psycho-physische-Objekte“, die ebenso wie ich einer Welt gegenüber offen stehen: d.h. sie sind „Subjekte für diese Welt“, diese Welt ebenso erfahrend wie ich selbst. Ebenso erfahren die Anderen mich als weltendes Subjekt, so wie ich die anderen erfahre. In dieser Richtung, so Husserl, kann noch Vieles noematisch zur Auslegung gelangen; eben eine „ontische“ – obzwar schon noematische - „Bestandsaufnahme“. Die Welt, die ich so erfahre, ist hier schon die intersubjektive, objektive – in an-sich-seiender-Geltung – befindliche Welt, die „eine“ Welt für die Vielen; die „…in ihren Objekten jedermann zugängliche Welt.“[12] Dennoch hat jeder, das wird man einsehen, je seine Perspektive und je seine eigene Erfahrung von dieser doch „gemeinsamen“ Welt. Hier liegt aber schon ein „Rätsel“ begraben, das nun den weiteren Fortgang zur Konstitution der Objektivität bestimmen wird. Denn: Wie ist das möglich, dass die „eine“ transzendente Welt, das An-sich-sein der Welt fraglos vorausgesetzt wird als die „gemeinsame“, wo doch jeder nur in seiner solitären Weise einen perspektivischen Zugang zur Welt hat? An „meinem“ intentionalen Leben ist daher unverrückbar festzuhalten; der Ausgangsort kann für Husserl nur ein „egologischer“ sein; denn jedweder „Seinssinn“ erwächst für Husserl aus meinem intentionalen Leben und aus dessen „konstitutiven Synthesen“. Wir können nicht an der „Subjekt-Relativität“ vorbeisehen. „Ich selbst“ spiele bei allen nun folgenden Betrachtungen eine eminent entscheidende Rolle, insofern sich in „mir“ eine ganze Welt und zugleich der Andere konstituiert. Objektivität schließt aber gerade das Perspektivische aus: der objektive Seinssinn besagt ja: für-jedermann-da.[13] Um nicht dogmatisch-metaphysisch ein An-sich-Sein der Welt und der Dinge in ihr zum Ausgangspunkt zu fixieren, ist gerade von Seiten der Phänomenologie zu zeigen, „wie“ sich unter Einschluss der Subjekt-Relativität ein An-sich-sein auf „diesem“ Boden (transzendentales ego) allererst konstituiert und daher ausweist. Mit anderen Worten: „Die Phänomene im Husserlschen Sinne sind nichts anderes als das in der Welt »an sich« Seiende, aber rein so, wie es sich in der situativen Jeweiligkeit des subjektiven »Für-mich« zeigt“.[14]
§ 3 – Die „primordiale“ Reduktion
Im § 44 der CM nimmt Husserl eine „thematische Reduktion“ – die primordiale vor. Husserl muss zeigen, wie die echte, wahre oder eigentliche Transzendenz ursprünglich und originär zu Stande kommt.[15] Demnach gibt es zwei Arten von Transzendenz: eine, die sich schon auf solitärem Boden zeigt im Sinne der Gegenstandskonstitution, die aber nicht über die primordiale Seinssphäre hinausführt und damit erst „Objektivität“ konstituiert. Es muss daher eine „andere Art von Transzendenz“ am Werk sein, die gerade diese „Objektivität“ konstituiert. Husserl stutzt das Subjekt auf seine „Eigenheitssphäre“ zurück. Husserl will hier keine gewöhnliche Abstraktion von den Anderen implementieren (so bliebe weiterhin der Seinssinn Welt als objektive erhalten), sondern fordert eine „radikale“ Reduktion mit dem Ziel, die „intersubjektive Geltung“ auszuschalten[16] und dadurch diesen „intersubjektiven Geltungssinn“ als Phänomen zu erhalten. Das „transzendentale Ego“ muss in seiner transzendentalen Eigenheit herausgestellt werden, denn es wird sich finden, dass sich hier auf „diesem“ Boden des transzendentalen Ego eine objektive Welt konstituiert.[17] Was bleibt von dieser „Zurechstutzung“ übrig?
Durch die „primordiale“ Reduktion bleibt so ein Residuum ganz eigener Art übrig: eine „Art“ von Welt, eine eigenheitlich reduzierte Natur, das psychophysische Ich (mit Leib und Seele und personalem Ich), das in diese Natur durch den körperlichen Leib eingelassen ist. Es handelt sich hier um das ausschließlich „Eigene“ in meiner Welterfahrung[18], um jenen „Kern“, der in aller Erfahrung stets mitschwingt und diese allererst ermöglicht. In diesem eigenheitlichen „Residuum“ bleiben zurück mein „psychisches Leben“, mein „psychophysisches Ich“, mein „welterfahrendes Leben“ – m.a.W. die gesamte Konstitution der für mich seienden Welt.[19] Hierher gehören dann auch in weiterer Folge – was gerade zu untersuchen sein wird – jene Systeme, die „Eigenheitliches“ als auch „Fremdes“ konstituieren. Freilich, ich bin als psychophysisches Ich ein Teil dieser Welt und vieles gibt es, das außer mir ebenso „ist“; dennoch konstituiert sich in mir – (transzendentales Ego) – diese ganze Welt; ich trage intentional dieselbe konstituiert in mir. Der Sinn der primordialen Reduktion liegt eben darin zu untersuchen, wie es überhaupt möglich ist, ein fremdes Ich zu erfahren. Aufzusuchen ist deshalb eine „originäre“ Erfahrung des Anderen, ein Originalbewusstsein, das Husserl vorbildhaft in der Wahrnehmungsanschauung vorgezeichnet findet. Der Gegenstand in seiner „leibhaften Gegenwart“ ist originär der ursprünglichste Akttyp.[20] Jeder signitive Akt oder jede Vergegenwärtigung verweisen ihrer eigenen Tendenz nach auf „originäre, leibhafte“ Erfüllung, auf eine frühere originäre Präsenz.[21] Eine aktuelle originäre Wahrnehmung oder eine gewesene sind die Grundlagen jeder Vergegenwärtigung. Auf das Problem der Fremderfahrung übertragen ergibt sich, dass hier ebenfalls eine „originäre“ Anschauung notwendige Bedingung der Fremd-Konstitution ist. Die eigenheitliche Monade als das mir spezifisch Eigene, mein Ego, konstituiert den Anderen als alter ego, als anderes Ich. Ich und das andere Ich: das Ich im anderen Ich verweist auf mich, auf mein Ego oder mit den Worten von Husserl: „Der Andere verweist seinem konstituierten Sinne nach auf mich selbst, der Andere ist Spiegelung meiner selbst, und doch nicht eigentlich Spiegelung; Analogon meiner selbst, und doch wieder nicht Analogon im gewöhnlichen Sinne.“[22] Wir stehen mit diesem Zitat vor den Toren der Fremd-Konstitution. Die Bedingung der Möglichkeit für dieselbe sieht Husserl im Vorrang der Selbsterfahrung vor der Fremderfahrung. „Anders gesagt ist die Selbstwahrnehmung ursprünglicher als die Fremdwahrnehmung“.[23] Jetzt erst kann gezeigt werden, wie mein Ego innerhalb der primordialen Sphäre „Fremdes“ konstituiert. Die „primordiale Reduktion“ findet bereits in der „transzendentalen Reduktion“ statt und setzt dieselbe voraus. „Transzendental eingestellt“ bin ich nach Husserl dann, wenn die Epoché (d.h. die Enthaltung von jeder Seinsstellungnahme, die Einklammerung der Generalthesis der natürlichen Einstellung) universalisiert wird. Wenn sich der Phänomenologe auf das noetisch-noematische Korrelationsapriori zurückbeugt (reflektiert), dann werden zwar schon einzelne Seinsstellungnahmen neutralisiert, dennoch bleibt ein „Rest“ an Seinsstellungnahme bezüglich jener Aussagen, die der Korrelationsforscher aufgrund seiner Reflexionen tätigt. Sofern nämlich Aussagen über das „Erscheinen-in-Gegebenheitsweisen“ getätigt werden, so werden eben diese Weisen unweigerlich als „seiend“ aufgefasst; also eine „Seins-Stellungnahme“.[24] Jede Behauptung (logos apophantikos) enthält in sich eine Seinsstellungnahme, denn sonst verfiele man dem radikalen Skeptizismus, der keinerlei Behauptungen mehr aufstellen kann. Damit ist Wissenschaft aber als Wissenschaft nicht mehr möglich. Einen letzten Bereich, einen unerschütterlichen Seinsbereich, findet der Phänomenologe im „Bewusstsein“ selbst. Wenn die Epoché sich jedweder Seinsstellungnahme enthält (Einklammerung der Generalthesis), dann trifft diese Einklammerung auf das „Bewusstsein“ insofern nicht zu, als sich das Sein des Bewusstseins völlig vom Sein der Gegenstände in der Welt und von dieser selbst unterscheidet. Inwiefern? Insofern, als das „intentionale Bewusstsein“ nicht zur Welt der Gegenständlichkeit gehört.[25] Es gibt nach Husserl einen Seins-Bereich, der durch die phänomenologische Epoché nicht betroffen ist, es handelt sich hierbei um die Einsicht, „…daß Bewußtsein in sich selbst ein Eigenwesen hat, das in seinem absoluten Eigenwesen durch die phänomenologische Ausschaltung nicht betroffen wird. Somit bleibt es als »phänomenologisches Residuum« zurück, als eine prinzipiell eigenartige Seinsregion, die in der Tat das Feld einer neuen Wissenschaft werden kann – der Phänomenologie“.[26] Dieses Residuum mit absoluter Seinsgeltung wird durch die transzendentale Epoché eröffnet und es handelt sich daher um den Seinsbereich des „reinen, transzendentalen Bewusstseins“. Das Bewusstsein ist von anderer Seins-Art als die Gegenstände in der Welt. In der natürlichen Welt-Erfahrung werden das An-sich-Sein der Gegenstände und die Welt selbst an-sich geradehin als subjekt-irrelativ erfahren. Das Sein der Welt besteht dieser Auffassung zufolge bewusstseins-unabhängig, transzendent. Das perspektivische Erscheinen-in-Gegebenheitsweisen wird nicht-thematisch übersprungen. Wie kommt es zu diesem Transzendenzerlebnis? Es handelt sich bei dieser Transzendenz nicht um eine bewusstseinsunabhängige überhaupt. Schon in der einfachen Wahrnehmung eines Gegenstandes wird ersichtlich, dass dieser immer nur aus einer bestimmten Perspektive für ein Wahrnehmen erscheint. Die sogenannten Abschattungen verweisen aber auf weitere, mögliche Bewährungen, in denen mir der Gegenstand aus anderen Perspektiven zur Gegebenheit käme. Diese „Motivationen“ im Sinne der „Verweisungen“ (Vermöglichkeiten) führen über die aktuelle Wahrnehmung hinaus (Transzendenz). Es gibt hier eine „Differenz“ zwischen aktueller (perspektivischer) Wahrnehmung (Abschattung) und durch dieselbe einen Horizont von Vermöglichkeiten, der es mir gestattet, über die aktuelle Präsenz potentielle Erfahrungen von demselben Gegenstand zu zeitigen. Das solcherart „Transzendente“ liegt für ein Überführen in aktuelle Präsenz bereit, obzwar es in der aktuellen Wahrnehmung als solches nicht „gegeben“ ist.[27] Transzendenz besagt phänomenologisch: Einbettung der Gegenstandserfahrung in das Horizontbewusstsein. Somit zeigt sich schon innerhalb der Eigenheitssphäre eine gegenstandskonstituierende Transzendenz – die primordiale Transzendenz[28] - die, vermöge des inneren Zeitbewusstseins, durch fortlaufende Rekognition „…die universale und formale Rahmenbedingung jeder Konstitution (auch jeder intersubjektiven Konstitution) von Identitätseinheit und Gegenständlichkeit ausmacht“.[29] Die primordiale Transzendenz als Okkasionalitätsüberschreitung[30] konstituiert aber im strengen Sinne noch nicht „Objektivität“. Es muss daher mir eigene Bewusstseinsweisen geben, die nicht nur Modi meines Selbstbewusstseins sind.[31] Die vorgenannte Transzendenz – für Husserl die höherstufige gegenüber der primordialen[32] - kommt einer Überschreitung okkasioneller Präsentation gleich.[33] Diese Transzendenz überschreitet die primordiale Eigenheitssphäre auf den Seinssinn Objektivität als Sein für Jedermann. Wie die höherstufige, intersubjektive Transzendenz über die primordiale Eigenheitssphäre hinausführt und „Objektivität“ konstituiert und dabei Fremderfahrung voraussetzt, ist nun genauer zu zeigen.
§ 4 – Fremderfahrung als Appräsentation
Kernproblem der Fremderfahrung ist ihre „Mittelbarkeit“ als Appräsentation; der Andere mit seinem Eigenwesentlichen ist mir in „direkter Weise“ nicht zugänglich. Wäre er das, so handelte es sich bei der Fremderfahrung um bloße Momente meines Eigenwesens.[34] „Fremdheit“ schließt sinnmäßig gerade die Unzugänglichkeit des originären Selbstseins des Anderen ein, denn, „…wäre das Eigenwesentliche des Anderen in direkter Weise zugänglich, so wäre es bloß Moment meines Eigenwesens, und schließlich er selbst und ich selbst einerlei.“[35] Der Fremde gehört als Fremder gerade nicht in meinem Kreis originaler Wahrnehmungsmöglichkeiten, er löst sich nicht in intentionale Korrelate meines eigenen Lebens und seiner Regelstruktur auf.[36] Von der primordialen Eigenheitssphäre auslaufend wird ein „Mit-da“ vorstellig gemacht, das niemals zu einem „Selbst-da“ werden kann. Husserl spricht an dieser Stelle von einer „Art“[37] Appräsentation und diese hebt sich von der die primordiale Natur mitkonstituierenden Appräsentation ab. Wesentlich zeigt sich die Schwierigkeit der Fremd-Konstitution in der Bewährbarkeit einer Appräsentation, „…die nicht durch die Präsentation der Vollzüge des unthematisch vergegenwärtigten Vollziehers selbst erfüllbar ist“.[38] Appräsentation ist ein wesentlich konstitutives Moment der „äußeren Erfahrung“. Was besagt im Grunde „Appräsentation“ und wie ist dieser gegenüber jene „Art“ des Mitgegenwärtig-Machens bei der Fremderfahrung zu verstehen?
Wenn ich aktuell – im Hier und Jetzt – ein „Ding“ wahrnehme, dann findet eine Anschauung statt. Anschauung impliziert für Husserl Originarität und Evidenz.[39] Das Ding zeigt sich mir „jetzt“ und es zeigt sich „mir“. Anschauung ist daher Gegenwärtigen eines Seienden (Ding). Eine Erinnerung oder einer Phantasievorstellung sind dagegen Ver-Gegenwärtigungen. Das Ding ist mir in der Anschauung keineswegs „vollkommen“ nach allen möglichen Seiten hin gegeben. Ich nehme originär immer nur eine bestimmte „Abschattung“ wahr, z.B. die Vorderseite eines Hauses. Unter einer „Abschattung“ versteht Husserl den Vollzug „einer“ Gegebenheitsweise unter vielen, welche insgesamt das „eine Ding“ in der „einen Wahrnehmung“ (Einstimmigkeit) konstituieren.[40] Die Rückseite und andere Perspektiven „dieses“ Hauses bleiben mir aktuell verborgen, ich habe aktuell (wahrnehmungsmäßig) zu ihnen keinen Zugang. Dennoch spreche ich von diesem „Haus“ und meine dieses auch, obwohl ich nur eine Abschattung desselben tatsächlich wahrnehme. Der Wahrnehmungsgegenstand „Haus“ ist mir als ganzer dennoch bewusst. Gehe ich um das Haus herum, kann ich weitere Wahrnehmungen des „einen und selben“ Hauses sammeln. In aller Änderung meines Standortes, in allem Wechsel meiner Wahrnehmungsperspektiven, bleibt das „eine Haus“ identisch dasselbe, während meine aktuellen Wahrnehmungsvollzüge wechseln. Husserl spricht in diesem Sinne von „Einstimmigkeit“. Die verschiedenen Abschattungen passen sozusagen „einstimmig“ auf das intendierte Haus, sie fügen sich einstimmig ein und diese „Einstimmigkeit“ garantiert mir die eine Wahrnehmung dieses Hauses. Dieses Haus bleibt in allem Wechsel der Gegebenheitsweisen identisch dasselbe. Ich nehme aktuell die Vorderseite dieses Hauses wahr (eine Abschattung desselben); zugleich aber mit dieser Abschattung liegen vorgezeichnete Möglichkeiten (Vermöglichkeiten) bereit, mögliche, auch zu erfüllende Abschattungen, die mir aber aktuell zu vollziehen nicht möglich sind. Vollziehe ich aktuell eine bestimmte Abschattung so verweist mich dieselbe – von ihrem eigenen Sinngehalt her – auf andere Perspektiven des Hauses, z.B. auf die Rückseite. So hat jede aktuelle Abschattung ihren „Horizont“ von gerade nicht aktuell vollzogenen Möglichkeiten der Wahrnehmung, Abschattungen, die bereit liegen, sich jederzeit zu erfüllen. Es ist mir „möglich“ diese bereit liegenden, horizontalen Abschattungen jederzeit in wirkliche, geradezu aktuelle Anschauungen, zu überführen. Die vorhin nur mit-vergegenwärtigte Rückseite - als solche ist sie aktuell nicht wahrgenommen – kann ich, indem ich meinen Leib-Körper um das Haus herum bewege und mich so zur Rückseite begebe, jederzeit mit anschaulicher Fülle – mit dem Sinn „leibhaftig da“ – erfüllen. Von diesem „Haus“ zu sprechen, was uns in der natürlichen Welterfahrung niemals problematisch wird, ist offenbar nur im mitgezeitigten Ausgriff auf die horizontale Verfasstheit jeder aktuell vollzogenen wahrgenommenen Abschattung möglich. Der Horizont, also der Verweisungszusammenhang der Vermöglichkeiten (der gerade nicht aktuell eingelösten Abschattungen) ermöglicht mir den Ausgriff auf das „Ding“, auf den „Gegenstand“ als solchen. Jede Wahrnehmung eines Gegenstandes ist daher immer schon „mehr“, als wir tatsächlich „wahrnehmen“. Es liegt ein konstituierender, gerade und aktuell nicht wahrgenommener „Überschuss“ in jeder Wahrnehmung, der gerade eine Ding- und Gegenstands-Welt konstituiert. Sprechen wir im Alltag, wie wir es gewohnt sind, von Gegenständen und Dingen, vom Seienden insgesamt, so hat die horizonthafte Gegenstandskonstitution bereits ihr Werk getan und vollzieht dieses ständig so lange wir wahrnehmen. Im Zuge der natürlichen Welterfahrung bleiben diese konstitutiven Züge „un-thematisch“; der Blick ist alleine auf das „Seiende“ gerichtet, auf die Gegenstände, auf die Dinge als solche: mein Thema der „Generalthesis“ ist stets der „Gegenstand“.[41] Spreche ich im Alltag von „Dingen“ oder von diesem und jenem Seienden, so ist die Anschauung – im besten Falle die originäre (leibhaftig da) – im Grunde eine Antizipation von Gegebenheitsweisen, die gerade nicht vollzogen, aber horizonthaft zur Erfüllung bereitliegen. Unter Antizipation versteht Husserl die „Vorwegnahme von Gegebenheitsweisen“, die zwar gerade nicht anschaulich erfüllt sind, aber jederzeit in Anschauung überführt werden können. Nehme ich diese – was un-thematisch in jeder Wahrnehmung schon (bereits) geschieht – aktuell unerfüllten Gegebenheitsweisen (Abschattungen) vorweg, dann ereignet sich ein Überstieg (Transzendenz) von der gerade aktuell vollzogenen Gegebenheitsweise zur Konstitution des „Gegenstandes“; in unserem Falle des Hauses. Die aktuelle Gegebenheit, das aktuelle Vermeinen, der okkasionelle Vollzug, wird transzendiert. Das Transzendente – der Gegenstand – erscheint dann dem natürlichen Bewusstsein als „an-sich-seiend“, als subjekt-irrelativ. Ein Gegenstand ist mir gegeben: das besagt, dass er subjekt-relativ gegeben sein muss; er ist für ein Subjekt gegeben. Das impliziert, dass Bewusstseinsvollzüge stattfinden, oder anders gesagt: dass eine „Meinung“ über einen Gegenstand statthat, ein „Vermeinen“. Seiendes ist dieser Einsicht zu Folge stets „nur“ und „nur“ in Gegebenheitsweisen, in Weisen der Gegebenheit für ein Subjekt, wahrnehmbar. Wird diese Subjekt-Relativität durchgestrichen, dann finden wir uns in der vermeintlichen Seinsstellungnahme des natürlichen Bewusstseins wieder: Das Seiende besteht an sich und objektiv, einerlei ob ein Wahrnehmen stattfindet oder auch nicht (hier handelt es sich um die vorausgesetzte Bewusstseinstranszendenz des Seienden des natürlichen Bewusstseins); das aufzuklären gerade die Intention der Phänomenologie ist. Gehen wir von der vorhin genannten aktuellen Wahrnehmung, vom originären Bewussthaben eines Seienden (des Hauses) aus, so zeigt sich mir aktuell gerade jetzt die „Vorderseite“ des Hauses. Auf diese Abschattung bin ich aber aktuell gar nicht gerichtet, diese Abschattung (Gegebenheitsweise) bleibt un-thematisch. Un-thematisch besagt: dieses Abschattungen begegnen mir nicht als „Gegenstände“.[42] Bevor es nun zu einer Antizipation von horizonthaft bereitliegenden Gegebenheitsweisen kommt, fungieren aktuell die unthematisch vollzogenen Abschattungen. Was geht hier vor? Die aktuell vollzogenen Abschattungen sind un-thematisch besagt: sie finden in mir selbst statt. Wenn die Vorderseite des Hauses aktuell in meiner Wahrnehmung „gelb“ ist, dann gehört diese Farbe als etwas Gegenständliches zum Haus (Ding); dem entspricht aber das un-gegenständliche der Gelb-Empfindung in mir als reelles Moment meines Bewusstseins.[43] Dem gegenständlichen Gegebensein (Farbe, Haus) liegt etwas Un-gegenständliches zu Grunde: meine Gelb-Empfindung. Diese Empfindungs-Daten sind nun für Husserl jene Momente, die als Grundlage dafür dienen, dass sich das Bewusstsein auf Gegenstände richten kann. Entscheidend ist nun, dass die Empfindungsgehalte erst vergegenständlicht und zur Einheit eines Dinges oder Gegenstandes geformt werden müssen. „Diese »Formung« oder »Beseelung« des »hyletischen Materials«, der »primären Auffassungsinhalte« nennt Husserl in freier Verwendung einer altgriechischen Vokabel, die den Vollzug eines Bemerkens und Vernehmens bezeichnet, »Noësis«.[44] Mit anderen Worten: Das Empfundene wird als „Gegenständliches“ aufgefasst, apperzipiert. „Durch noëtische Formung der Hyle in der Apperzeption konstituiert sich das wahrgenommene Ding.“[45] Grundlage für jegliche Apperzeption bleibt das Empfindungsmaterial; das Bewusstein transzendiert aber dasselbe und konstituiert den Gegenstand. Wenn Seiendes unmittelbar erscheint, d.h. evident ist, dann erscheint es „als“ Bewusstsein. Ich nehme wiederum aktuell die „Vorderseite“ des Hauses wahr, ich bin auf das Haus als solches gerichtet, dennoch ist dieses Haus mir nur in der je jeweiligen Abschattung zugänglich. Erfasse ich „unmittelbar“, d.h. ereignet sich eine Identität von Erfassen und Sich-zeigen des Seienden[46], so ereignet sich „Evidenz“. Das unthematische unmittelbare Erscheinen des Seienden „als“ Bewusstsein ist „Evidenz“. Evidenz ist immer Evidenz des Gegenwärtigens. Der okkasionelle Vollzug als Identität von Erfassen und Sich-zeigen des Seienden ist immer Gegenwärtigung – ist Präsentation. Präsentiert wird jeweils eine einzige, gerade eben vollzogene Okkasion. Jede Präsentation hat aber in ihrem Gefolge einen unbestimmten Horizont (einen Hof) von gerade nicht vollzogenen, möglichen Präsentationen. Weil diese möglichen Präsentationen gegenwärtig nicht aktualisiert werden können (Abschattung), werden sie nicht gegenwärtigt, sondern ver-gegenwärtigt. So begleitet jede aktuelle Präsentation (bereits ein Pleonasmus) ein nichtthematischer Hof von ebenfalls unthematischen ver-gegenwärtigten Präsentationen. Jede Präsentation hat in ihrem Gefolge Appräsentationen.[47] Die okkasionelle Evidenz in ihrer un-thematischen Unmittelbarkeit als originäres Erfassen ist zugleich Anschauung, ist zugleich Wahrnehmen, ist zugleich Perzeption. In einer je jeweiligen Situation (Okkasion, okkasionelle Evidenz) nehme ich vermeinend einen Gegenstand (Transzendenz) in einer bestimmten Gegebenheitsweise (Subjekt-Relativität) wahr. Die okkasionelle Evidenz als Identität von Sich-zeigen des Seienden und Erfassen des Seienden (das Perzipierte) ist ein Perzipieren, ein Wahrnehmen. Transzendenz auf Gegenständlichkeit heißt aber, dass die okkasionelle Identität auf die Gegenständlichkeit, auf ein Identisches in allem Wechsel, hin überschritten werden muss. D.h., dass sich die okkasionelle Identität als labil zeigt und jederzeit aufgelöst wird zu Gunsten des Gegenstandserscheinung. Es erfolgt beständig ein Übergreifen von aktuell Wahrgenommenen auf ein „Mehr“ des gerade Wahrgenommen, ein Übergriff auf Nicht-Perzipiertes im Sinne einer Vereinheitlichung und Synthesis als zur Einheit eines „Gegenstandes“ gehörig. Mit der Apperzeption wird ein okkasioneller Zusammenhang im Ganzen überschritten, mit der Appräsentation wird ein einzelner okkasioneller Vollzug innerhalb dieses Ganzen überschritten.[48] Während der okkasionelle Vollzug als un-thematische Identität von Sich-zeigen und Erfassen des Seienden mit den Begriffen Präsentation und Perzeption belegt werden kann, zeigen die Titel Appräsentation und Apperzeption das Transzendenzgeschehen der Gegenstandskonstitution an. Es besteht aber zwischen beiden ein bestimmtes Verhältnis: Die Apperzeption als Ausgriff (Transzendenz) auf das Bewusstsein von der Selbstgegebenheit des Vermeinten (auf Nicht-Perzipiertes) ist daran gehalten, nicht ins „Leere“ zu apperzipieren.[49] Das kann nur so geschehen, dass Evidenz vom apperzeptiv Vermeinten möglich sein muss. Die Apperzeption als vermeinte Selbstgegebenheit des Gegenstandes beruht auf der Appräsentation. Die Appräsentation bereitet den Überschritt über das Ganze eines okkasionellen Vollzugszusammenhangs (Apperzeption) insofern vor, weil sie den einzelnen okkasionellen Vollzug überschreitet und zwar als Erfüllung möglicher Präsentationen und somit „überprüfbar“ bleibt. „In diesem Sinne motiviert die Überführbarkeit der Appräsentationen in Präsentationen die originäre Apperzeption“.[50] Bestätigt wird die Apperzeption durch „Erfüllung“ oder „Bewährung“ und diese ihrerseits sind nichts anderes als die Überführbarkeit von Appräsentationen in Präsentationen. Jedes Transzendenzbewusstsein ist auf diese „Erfüllung“, auf diese „präsentative Evidenz“, angewiesen. D.h. jede Apperzeption verweist ihrem Sinne gemäß zurück auf appräsentative Bewährbarkeit, auf die Überführung von Appräsentationen in Präsentationen und das heißt wiederum auf die „Evidenz der okkasionellen Vollzüge“. Zusammenfassend: Das Bewusstsein transzendiert apperzipierend (formend, beseelend) einen Zusammenhang okkasioneller Vollzüge auf ein jeweils Identisches, das jeweils in diesen Vollzügen schon erscheint. Motiviert wird diese Apperzeption durch die jeweiligen Appräsentationen, die eine „Bewährung“ der ersteren gestatten. Jede Apperzeption zeichnet eine zugehörige Regelung der Bewährungsmöglichkeit aufgrund bestimmter Appräsentationen vor. Werden diese in Präsentationen überführt, d.h. bewähren sich die zugehörigen okkasionellen Vollzüge, dann kommt es zu einer „Erfüllung“ oder „Bewährung“ der Apperzeption. Apperzeptionen sind mit einem Wort: Gegenstände für das Bewusstsein, gegenständliches Bewusstsein. Daher „konstituieren“ sich die Gegenstände im Grunde durch „Bewährung“. Finden kohärente Bewährungsabläufe statt, so konstituiert sich Gegenständlichkeit und damit erst die Möglichkeit für das „natürliche Bewusstsein“, von einem „An-sich-sein“ der Welt und der Gegenstände in ihr überzeugt zu sein. Phänomenologie ist somit „Konstituionstheorie“; sie hat nachzuweisen, wie sich Gegenstände in geregelten und vorgezeichneten Bewährungsverläufen „konstituieren“. Aufgrund der Mannigfaltigkeit der Apperzeptionen ist es ein Erstes, einzelne Arten originären apperzeptiven Bewusstseins aufzusuchen. Ein nächster Schritt ist das Bestimmen der Art des bewussten Seienden. Die Bestimmtheit der Art des Seienden ihrerseits kann wiederum nur in einem okkasionellen Bewährungsverlauf zur Gegebenheit kommen. Daher verweist die „Bestimmtheit der Art des Seienden“ von ihrem eigenen Gehalt her auf die für ihre Erfassung notwendigen Bewusstseinsvollzüge. Die Bestimmtheit der Art des Seienden liefert den „Leitfaden“ für den Aufweis der betreffenden Regelstruktur der Bewährbarkeit.[51]
Nun knüpfen wir an das Problem der Fremderfahrung an, d.h. im Grunde an das Problem der Objektivitätskonstitution. Husserl muss erklären, wie der Sinn „Objektivität“ auf solitärem Boden zu Stande kommt; daher wird die primordiale Reduktion implementiert. Objektivität hat in erster Linie den Sinn: Subjekt-Unabhängigkeit. Was von den jeweiligen Perspektiven der jeweiligen Subjekte unabhängig ist, d.h. sich identisch durchhält, von dem sagt man, dass es „objektiv“ sei. Objektivität ist also nicht eine völlige Absage an jede Form der Subjektivität, sondern setzt diese voraus im Sinne der „Inter-Subjektivität“. Wenn die Welt und die Gegenstände in ihr „objektiv“ gelten, dann setzt das voraus, dass diese Phänomene nicht nur „meiner“ Phantasie entspringen, sondern dass dasselbe, was ich erfahre, prinzipiell auch von den Anderen erfahren werden kann. Versagte sich diese Möglichkeit im Prinzip, dann könnte ich niemals meine „primordiale Eigenheitssphäre“ auf Objektivität hin transzendieren. Ich wäre damit dem reinen Solipsismus preisgegeben und eine Phänomenologie als Transzendentalphilosophie wäre ebenfalls gescheitert: Denn wenn es nur mich und meine Welt gibt, wer soll die Einsichten und Ergebnisse vom Status der Egoität zum objektiven erheben; es sei denn, dass es Andere gibt, die ebenso diese Sachverhalte einsehen können und die zugleich der „gemeinsamen Welt“ zugänglich sind? Schon die einfachste Reflexion macht deutlich: So viele Menschen es gibt, so viele Erfahrungssituationen – je andere – gibt es und dennoch beziehen wir uns auf die „einige“ Welt und in ihr auf Gegenstände, die nicht nur „für mich“, sondern genauso für die Anderen sind; für mich wie für die Anderen in „derselben“ Weise erscheinen; trotz verschiedener Erfahrungssituationen. Wie ist daher eine uns gemeinsame „Erfahrungswelt“ möglich, von der wir in der natürlichen Einstellung stets überzeugt sind? Nehmen wir das „Haus-Erlebnis“, so wird klar, dass die Erfahrung von diesem Haus nicht nur die meinige ist, sondern dass auch meine Nachbarin in einem Gespräch sich ebenfalls auf dieses Haus bezieht. Es muss also einen Sinn von Transzendenz geben, der es ermöglicht, dass das je jeweilig situativ Erlebte auf eine „Objektivität“ hin überschritten wird. Weil ich nach phänomenologischer Manier nicht Objektivität voraussetzen kann, muss die Objektivitäts-Konstitution auf solitärem Boden aufgezeigt werden: also aus und in der Perspektive der „Ersten Person“. Gezeigt haben wir weiter oben schon, dass es zwar in der primordialen Eigenheitssphäre eine Form der Transzendenz gibt, dass diese primordiale Transzendenz aber letztlich nicht dieselbe Sphäre auf Objektivität hin überschreiten kann. Abstrahiert wurde methodisch von aller intentionalen Leistung in Ansehung der Fremd-Welt. Vorgreifend kann gesagt werden: Insofern eine Möglichkeit besteht, die primordiale Eigenheitssphäre auf Objektivität hin zu durchbrechen, so kann das nur gezeigt werden, wenn der Fall von der Transzendenz der Objektivität „eintritt“ und damit mit einem Schlage die Eigenheitssphäre durchbricht. Objektivität in diesem Sinne garantieren nur die „Anderen“, die zwar meinesgleichen sind, also weltoffen welten, aber nur insofern, „als“ sie die Anderen sind und nicht als solche in meinen Bewusstseinsleistungen aufgehen, absorbiert werden. Erst der Andere als der grundsätzlich „Fremde“ garantiert mir im zugleich selben Ausgriff auf seine Welt, die auch in gewissem Sinne die meine sein muss, Objektivität. Objektivität heißt demnach: Ich und der Andere – wir beziehen uns auf eine „gemeinsame Welt“ – obzwar jeder von uns in seiner „eigenen Welt“ lebt. Der Fremde als der „Andere“ spielt bei der Konstitution von Objektivität „die“ entscheidende Rolle.
Im § 50 der CM[52] repetiert Husserl sein Apperzeptionsmodell. Appräsentation, so Husserl, liege schon in der äußeren Erfahrung vor: die aktuell perzipierte und präsentierte Vorderseite des Hauses verweist ihrem eigenen Leistungssinn entsprechend auf „Mitgemeintes“, aber aktuell nicht Perzipiertes – z.B. auf die Rückseite desselben Hauses. Bewährt, so haben wir oben gezeigt, wird das Apperzipierte, der Gegenstand, hier das „Haus“, durch fortlaufende und mögliche Überführung der Appräsentationen in aktuelle Präsentationen; die Apperzeption „erfüllt“ sich. Dieser Vorgang hat schon in meiner primordialen Eigenheitssphäre statt; diese ist von dieser Form der Transzendenz durchzogen. Diese Art der Appräsentation im Sinne der Bewährung scheitert aber gerade bei der Fremdwahrnehmung. Inwiefern? Insofern, als es sich beim „Anderen“, beim „Fremden“, um eben eine „andere Originalsphäre“ handelt, die als solche niemals in meinen Bewusstseinsleistungen aufgehen kann, sonst wäre der „Andere“ bloß ein Moment meines Eigenwesens. Wie kommt es aber, so fragt Husserl an dieser Stelle, in meiner „Eigenheitssphäre“ zur Motivation einer Fremd-Appräsentation, wie kommt es zur Motivation einer „fremden Originalsphäre“ in meiner eigenen? Die Problematik besteht darin, dass sich die Ding-Wahrnehmung bewähren kann; es kommt zur „erfüllten“ Evidenz. Dieses Modell versagt aber bei der Konstitution einer fremden Originalsphäre, die mir als solche unzugänglich bleibt. Husserl ist also auf der Suche nach der „Motivation“ zur Primordialitäts-Überschreitung. Gesucht ist - wie bei der Ding-Wahrnehmung – eine „originäre Gegenwärtigung“, die als solche schon eine Verwiesenheit auf zugehörige und bereitliegende Gegebenheitsweisen mitbringt. Gegenwärtigung heißt: evidente, eigentliche Selbstgebung.
Ich halte mich noch immer und stets in meiner „primordialen Welt“ auf, ich bin stets der „primordiale Mensch“. Ich walte und schalte so als psychophysische Einheit, mit dem mir eigenen Leib. Ich wirke auch in die primordiale Umwelt hinein. Ich selbst bin Subjekt eines konkreten intentionalen Lebens; bin auf mich selbst bezogen und zugleich bezogen auf die Welt. Es tritt nun ein „anderer Mensch“ in unseren Wahrnehmungsbereich[53]. Reduziert und noch vor aller Fremd-Konstitution heißt das aber: es tritt noch kein anderer Mensch in unsere Sphäre und auch noch nicht der Fremde und ebenso wenig der Andere. Es tritt lediglich ein „Körper“ auf. Primordial gesehen ist dieser auftretende Körper Bestimmungsstück meiner selbst. Soll sich der Körper dort überhaupt jemals zum „Anderen“ konstituieren, so kann das primordial nur so geschehen, dass es zu einer „Übertragung“ kommt. Es handelt sich kurz gesagt um eine „apperzeptive Übertragung“ von meinem Leib her; um eine „Übertragung“, denn eine primordiale Ausweisung der Prädikate der spezifischen Leiblichkeit des Anderen ist grundsätzlich nicht möglich. Das „Motivationsfundament“ kann für Husserl nur – in diesem Stadium – eine verähnlichende Übertragung sein. Der Körper „dort“ wird ähnlich meinem „hier“ aufgefasst und so kommt das „Analogisieren“ in der primordialen Sphäre zum Schwingen. So kommt es dann in weiterer Folge dazu, dass der Körper „dort“ auch als „anderer Leib“ – also als eine Originalsphäre – aufgefasst werden kann. Der in meine primordiale Welt eintretende Körper wird analogisierend in Ansehung meines eigenen Leib-Körpers verähnlicht. Das erste ist also das Auftauchen eines „Körpers“ in meiner primordialen Sphäre. Ich erfasse diesen Körper als mit meinem ähnlich. Diese „Ähnlichkeit“ kann auch Konfiguration genannt werden[54] und wird insgesamt von Husserl als Paarung bezeichnet. Paarung ist das konfigurierte Auftreten als Paar, dem die Verähnlichung zu Grunde liegt: ein Körper ist ähnlich dem anderen. Unter Paarung versteht Husserl näherhin Assoziation. Unter Assoziation in phänomenologischer Hinsicht ist hier eine „Vereinigung“ zu verstehen, die als aktive Passivität des Bewusstseins im Sinne des „Etwas-erinnert-an-Etwas“ verstanden werden muss. Z.B. erinnert ein Geruch an eine bestimmte Räumlichkeit, beispielsweise an ein ehemaliges Klassenzimmer. Ein Bewusstsein von einer bestimmten Gegebenheit ruft das Bewusstsein von einer anderen Gegebenheit hervor. Wichtig ist nun für die Fremderfahrung, dass das Phänomen der Paarung als Leistung der passiven Synthesis schon apriori ihr Werk stiftet, es sich hier sozusagen um eine stets geschehende „Urstiftung“ handelt, die es gestattet, dass zwei Daten (der Körper dort – der Körper hier) in der Einheit eines (primordialen) Bewusstseins in Abgehobenheit anschaulich gegeben sind, also schon immer – ob beachtet oder nicht – als Paar konstituiert sind.
Zur Paarung im Falle der alter-ego-Konstitution durch das primordiale ego kommt es erst, wenn der „Andere“ durch mich wahrgenommen wird. Wenn ein Körper in meine primordiale Sphäre tritt, der dem meinen „ähnlich“ ist, also schon eine Paarung eingeht, eingehen muss, so Husserl[55], so kommt es in weiterer Folge durch apperzeptive Übertragung zu Sinnesüberschiebungen; d.h. der mir ursprünglich zugehörige Sinn Leiblichkeit wird dem „anderen Körper“ übergeschoben. Husserl bezweifelt allerdings die Einfachheit dieser apperzeptiven Übertragung, denn die Originalsphäre des Anderen als eines Anderen schließt die appräsentative Bewährung jener Apperzeption in meiner Eigenheitssphäre aus. Der apperzeptive und übergeschobene Seinsgehalt des Anderen kann sich in meiner Selbstwelt nicht ausweisen. Damit muss ein anderer „Bewährungsstil“ aufgesucht werden, der es erlaubt, die Fremd-Apperzeption in erfüllenden Appräsentationen zu bewähren. Jede Appräsentation weist, wie oben ausgeführt, auf eine Präsentation zurück. Das ist der bloße „Körper“ des Anderen, der in meine primordiale Welt eintritt. Der Körper dort ist aber meinem Körper „ähnlich“ (Paarung), er erinnert an meinen Leib-Körper. Die Appräsentation des Anderen ist mit einer originalen Präsentation verflochten: sein Körper als Stück meiner eigenheitlich gegebenen Natur. Bevor wir hier weiterdringen, ist zunächst ein wichtiger Hinweis von Husserl im § 53 zu verfolgen. Demgemäß zeigt sich mein körperlicher Leib in meiner primordialen Sphäre in einem (absoluten) „Hier“; der andere Körper, der in die eigenheitliche Sphäre eintretende, der Körper des Anderen, ist demzufolge immer im Modus „Dort“. Vermöge meiner Kinästhesen, so Husserl, ist es mir gestattet, jedes „Dort“ in ein „Hier“ zu verwandeln. Ich kann dann von „Dort“ aus gemäß anderer Erscheinungsweisen wiederum dieselben Gegenstände sehen. Aufgrund meines Doppelrealitäts-Bewusstseins[56] (bloßes Dort/Körper – absolutes Hier/Leib) ist es mir überhaupt möglich, einen bloßen Körper räumlich zu erfahren. Mein Leib-Körper begegnet stets im „absoluten Hier“; demgegenüber ist jeder andere Körper „dort“. Es gibt nun zwei Motivationsmöglichkeiten (Vermöglichkeiten), die mir erlauben, das alter ego in seiner Originalsphäre zu konstituieren, angezeigt unter der Formel: „wie wenn ich dort wäre!“. „Ich apperzipiere den Anderen doch nicht einfach als Duplikat meiner selbst, also mit meiner oder einer gleichen Originalsphäre, darunter mit den räumlichen Erscheinungsweisen, die mir von meinem Hier aus eigen sind, sondern näher besehen, mit solchen, wie ich sie selbst in Gleichheit haben würde, wenn ich dorthin ginge und dort wäre.“[57] Einerseits kann ich mich in realer Erwartung, also zukünftig wirklich „dorthin“ begeben, wo jetzt der andere Körper ist (das Dort), oder ich kann mich in der Phantasie in das Gebaren des anderen Körpers hineinfingieren und mir bloß „einbilden“, dass ich dort wäre.[58] Beide Vorstellungsmöglichkeiten ergänzen sich nun: „Die beiden Vermöglichkeiten fangen nämlich dann an, sich wechselseitig zu ergänzen, wenn »dort« wirklich ein Körper auftaucht, der mich nicht nur gelegentlich, sonder kontinuierlich in seinem Gebaren an mein eigenes leibliches Verhalten erinnert: Durch die Phantasie geht mir überhaupt die Möglichkeit auf, hinter dem Gebaren jenes Körpers dort ein Wesen meinesgleichen zu erkennen.“[59] Der Andere ist ebenso wie ich, ein „absolutes Funktionszentrum“[60], der in meiner monadischen Sphäre im Modus „Dort“ auftritt und er wird in meiner Monade von mir konstituiert nicht als Duplikat, sondern in der Form: wenn ich dort hin ginge und dort wäre.[61] Nun schreibt Husserl, dass das primordial Unverträgliche in der Koexistenz – wie wird in einem absoluten Hier ein anderes absolutes Hier konstituiert? – dadurch verträglich wird, dass mein Ego das andere Ego durch eine appräsentative Apperzeption konstituiert[62] und dieselbe weder Erfüllung zulässt noch fordert.
Appräsentation, wie oben ausgeführt, setzt originäre Präsentation voraus. Das Präsentierte verweist seinem eigenen Richtungssinn gemäß auf bereitliegende und als solche nicht aktuelle aber mögliche weitere Präsentationen; diese werden mit-vergegenwärtigt, also appräsentiert. So führt jede Präsentation mit sich einen Hof von Appräsentationen. Präsentation und Appräsentation gehen stets zusammen, oder wie Husserl sagt: sind stets verschmolzen.[63] Beide in ihrer Verschmelzung garantieren dem Bewusstsein das Erscheinen eines „Gesamtgegenstandes“, von dem das natürliche Bewusstsein überzeugt ist, dass dieser an-sich besteht, unabhängig davon, ob ein Bewusstsein sich darauf richtet oder auch nicht. Das Präsentierte (die Abschattung) ist das eigentlich Wahrgenommene, und das Appräsentierte ist der jeweils mit verschmolzene „Überschuss“, der als solcher eigentlich nicht wahrgenommen und dennoch „da“ ist. Transzendenz findet also hier schon statt insofern, als ein ständiger Überschritt vom Präsentierten zum Appräsentierten geleistet „ist“. Wahrnehmung setzt daher „mehr“ als das, was tatsächlich selbst-da im okkasionellen Vollzug präsentiert wird. Husserl nennt das Beispiel vom Haus: die präsentierte Vorderseite appräsentiert stets die Rückseite. Auf die Fremderfahrung angewandt heißt das: Auch die Fremd-Wahrnehmung ist eine Wahrnehmung und in ihr muss ein Kern von einer Präsentation vorliegen, die das Appräsentieren ins Schwingen bringt. Man kann jetzt auch umgekehrt sagen, dass der appräsentierte (apperzipierte?) Gegenstand in seiner Einheit das Präsentierte als zu derselben Einheit zugehörig auffasst. Erscheint ein Körper in meiner Primordialsphäre und hat sogleich die „Fremdwahrnehmung“ ihr Werk assoziativ-apperzeptiv getan, also erscheint mir der fremde Leib-Körper, die „andere“ Primoridalsphäre, dann deshalb, weil das zunächst Präsentierte, der bloße Körper, grundsätzlich als zur Einheit der anderen appräsentierten Originalsphäre gehörig aufgefasst wird. Der andere Körper dort in meiner Primordialsphäre zeigt sich als derselbe Leibkörper. Wenn ein anderer Körper in meiner Primordialsphäre auftritt, ein Primordialkörper, der als solcher der Präsentation entspricht, dann ist damit schon die Reihe bis zur apperzeptiven Einheit des „fremden Leibkörpers“ vorgezeichnet. Der Sinn „fremder Leibkörper“ ist eigentlich schon mit der Präsentation des bloßen Körpers im „Dort“ mit-anwesend. Der andere bloße Körper „ist“ schon im Grunde das andere „Ich“. „In dem anderen Körper, der mir »dort« als etwas Gegenwärtiges begegnet, ist mir der Andere, für den jener Körper sein Leib ist, mitgegenwärtig.[64] Durch die Appräsentation, durch die Mit-Gegenwärtigung in Einheit mit der Präsentation (die als solche überhaupt es initiiert, dass ein fremder Körper da ist) ist schon, wie Husserl sagt, der „Identitätssinn“ meiner Primordialsphäre und der appräsentierten anderen Primordialsphäre „notwendig“ hergestellt.[65] Der Andere, der Fremde, wird in meiner Primordialsphäre mit seiner Primordialsphäre konstituiert: wie wenn ich dort wäre. Er sieht auf dasselbe hin wie ich und diese Wahrnehmung spielt sich dennoch nur in meiner eigenheitlichen Sphäre ab, die aber durch die Fremd-Intentionalität auf Objektivität hin transzendiert wird. Objektivität heißt dann: Mein Ego konstituiert in sich ein anderes Ego. Durch diese eigentümliche „Appräsentation“ wird das andere Ego konstituiert. Der Unterschied zur Appräsentation in der Ding-Wahrnehmung liegt darin, dass die Fremd-Appräsentation eine Erfüllung (Bewährung) durch Präsentation des fremden Ego weder zuläßt noch fordert. Ich kann die andere Originalsphäre niemals zur ausweisenden (erfüllenden) Gegebenheit in meiner primordialen Sphäre bringen. Die andere Originalsphäre ist mir in meiner Primordialsphäre „mit-gegenwärtig“ – appräsentativ gegeben. Der „Andere“ kann daher niemals zu einem absoluten „Hier“ werden und vice versa. Die absolute Örtlichkeit meines Leib-Körpers im „stets Hier“ ist unverrückbar. Demnach bleibt auch der andere Leib-Körper in seiner Absolutheit von mir aus gesehen im „Dort“. Der „Andere“ bleibt der „Andere“, weil die Leib-Gebundenheit je jeweilen ein absolutes Hier beansprucht, das eine Besetzbarkeit durch einen wiederum jeweils Anderen ausschließt.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Husserl zeigt durch sein Apperzeptions-Appräsentations-Modell wie Fremderfahrung und damit „Objektivitätsstiftung“ (der Andere bleibt der Andere) möglich ist; wie ich in meiner „Monade“ eine „andere Monade“ konstituieren kann und das Konstituierte dennoch „als“ Anderes erfahren wird. Diese „synthetische Identifizierung“, so Husserl, biete „…kein größeres Rätsel als jede, also auch jede in meiner eigenen Originalsphäre sich haltende, vermöge deren überhaupt gegenständliche Einheit für mich Sinn und Sein gewinnt durch das Medium von Vergegenwärtigungen“.[66] Die Fremderfahrung leistet eine „Verbindung“ zwischen der Selbsterfahrung (der primordialen Sphäre) und der in ihr konstituierten „fremd-eigenheitlichen-Sphäre“. Diese „vermittelnde Verbindung“ wird durch eine „identifizierende Synthesis“ geleistet. Durch die identifizierende Synthesis wird die Koexistenz meines Ich mit dem fremden Ich „urgestiftet“ und damit eine gemeinsame Zeitform ermöglicht.[67] Damit ist „Objektivität“ in einer gemeinsamen Welt hergestellt.
Literaturverzeichnis
Held, Klaus: Edmund Husserl. Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I. Stuttgart: Reclam 2006.
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Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Tübingen: Niemeyer 1993.
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Empedokles „…der reine tragische Mensch“
Nietzsche und Empedokles
Thomas Buchhas
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INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung……………………………………………………………………………….. 3
§ 1 Das Tragödien-Konzept nach Nietzsche
§ 2 Die dionysische Weltauffassung
§ 3 Empedokles: „…der reine tragische Mensch"
§ 4 Ergebnis und Ausblick
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die Tragödie (gr. tragodia) meint ursprünglich den „Bocksgesang“ und hat ihren Namen daher, dass an den antiken Dionysien die Sänger des Dithyrambus im Gefolge des Gottes Dionysos in Böcke verkleidet waren. Unter einer Tragödie versteht man dann oft ein Trauerspiel. Maßgebend für die Sache der Tragödie wurde Aristoteles, der in seiner „Poetik“ jene Theorie der Tragödie installierte, die bis heute in Geltung ist: nämlich jene Affekte im Zuschauer, Mitleid und Furcht, zu mobilisieren, die dann zu einer kátharsis von eben jenen Zuständen führen sollten. Nietzsche wird diese Tragödien-Theorie des Aristoteles scharf verurteilen: sie sei ein Missverständnis[1] deshalb, weil es einfach nicht wahr sei, dass man durch die Erregung jener Affekte sich von denselben purgiert. Im Gegenteil: werden Affekte wir Furcht oder Mitleid erregt, so schwächen und entmutigen sie – die Tragödie wäre dann eben ein Auflösungs-Prozess. Kunst wäre im Wesen: Christentum; so wenigstens nach Nietzsche, die Tragödie ein Symptom des Verfalls. Die Tragödie, als Purgativ verstanden, sei ein Missverständnis. Dagegen Nietzsche: die Tragödie sei im Wesen pessimistisch, der Einzelne soll etwas Überpersönlichem geweiht und für den bevorstehenden ubiquitären Untergang gestärkt, heroisch motiviert werden; das ist die tragische Gesinnung nach Nietzsche.[2] Von einer kathartischen Reinigung keine Spur.
Diesem Tragödien-Konzept von Nietzsche fragen wir in einem ersten Schritt in unserer Untersuchung nach. Der „tragische Mensch“ wird sich dabei als ein „Grenzgänger“ zeigen, der exponiert in einer Umbruchszeit seinen Standort bezogen hat und bestimmte „tragische Kriterien“ erfüllt. Der „tragische Mensch“ erfährt dann in der Folge bei Nietzsche eine Steigerung: das ist der „reine tragische Mensch“.[3] Als Paradigma dieses „reinen tragischen Menschen“ wählt Nietzsche Empedokles. Wir machen uns daher auf die Suche nach tragischen Ingredienzien im Lehrgedicht der „Katharmoi“ des Empedokles. Es wird sich zeigen, dass der vorsokratische Philosoph tatsächlich samt und sonders die Nitzscheschen tragischen Elemente in sich vereinigt.
Ob Empedokles aber ein „reiner tragischer Mensch“ war und was das überhaupt bedeuten soll, nämlich ein „reiner“ tragischer Mensch zu sein, das werden wir am Ort der Untersuchung abschließend zu fragen haben.
§ 1 - Das Tragödien-Konzept nach Nietzsche
Was Nietzsche unter einer „Tragödie“ versteht und wie er das „Wesen“[4] derselben zu fassen meint, findet in den frühen Schriften des Philosophen einen grundlegenden Niederschlag. In den knappen, aber umso essentieller gehaltenen Schriften aus dem Nachlass um die Entstehungszeit der Geburt der Tragödie finden sich wie folgt „wesentliche“ Formulierungen zur Funktion der Tragödie:
„Die Tragödie, aus der tiefen Quelle des Mitleidens entstanden, ist ihrem Wesen nach pessimistisch. Das Dasein ist in ihr etwas sehr Schreckliches, der Mensch etwas sehr Thörichtes. Der Held der Tragödie erweist sich nicht, wie die neuere Aesthetik wähnt, im Kampfe gegen das Schicksal, ebensowenig leidet er, was er verdient. Blind vielmehr und mit verhülltem Haupte stürzt er in sein Unheil: und seine trostlose aber edle Geberde, mit der er vor dieser eben erkannten Welt des Schreckens stehen bleibt, drückt sich wie ein Stachel in unsre Seele“ (KSA 1, 546).
Wir halten fest, dass die Tragödie ihrem Wesen nach, also essentiell, pessimistisch sei. Pessimistisch (lat. pessimum): meint das Schlechteste, „…die Ansicht, nach der Leben und Welt vom Schlechten und Bösen beherrscht werden“.[5] „Der Pessimismus“ – so Nietzsche in den Nachgelassenen Fragmenten vom Winter 1869/70 – „ist die Folge der Erkenntniß vom absolut Unlogischen der Weltordnung, stärkster Idealismus wirft sich in Kampf gegen das Unlogische mit der Fahne eines abstrakten Begriffs […]“.[6]„Das Leben […] im Ganzen […] sei, so Schopenhauer in: „Die Welt als Wille und Vorstellung I“ – „…ein „Trauerspiel“[7], […] „…jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte“[8]. Kurz: „Unser Zustand ist ein so elender, daß gänzliches Nichtsein ihm entschieden vorzuziehn wäre“.[9] Das Gegenstück zum Pessimismus, der Optimismus, sei, so Schopenhauer, „...eine wahrhaft ruchlose Denkungsart“[10] – angesprochen sind damit Philosophen wie Leibniz und Hegel.[11] Das Dasein sei in der Tragödie, so Nietzsche im obigen Zitat „schrecklich“ und „thöricht“. Der gängigen Überzeugung nach versteht man unter einem „Schreck“ etwas Abträgliches, Furchtbares, einen Zustand, der sehr unangenehm ist. Unter einem „Schreck“ ist demnach zu verstehen: „…die Reaktion eines Organismus auf einen überraschend wahrgenommen, potentiell bedrohlichen Reiz. Die Schreckreaktion beinhaltet verschiedene psychologische und physiologische Prozesse, die allesamt der Abwehr der Bedrohung beziehungsweise der Minimierung abträglicher Folgen dienen. Der Schreck wird in der Regel als aversiv empfunden.“[12] Das Leben ist nicht nur in der Tragödie „schrecklich“, sondern an sich abträglich, ekelerregend, ekelhaft – eben „schrecklich“ und „thöricht“ in der Bedeutung von vergeblich und umsonst. Ohne Überlegung – (wir können in Anlehnung und Weiterführung an das obige Nietzsche-Zitat festhalten: ohne „Dialektik“) – ohne „Rechenexempel“ – ohne „Unterredungskunst“ – stürzt der Protagonist wie .bewusstlos in sein „Unheil“. Er, der Protagonist, stehe dann eben mit einer „trostlosen“ (aber nichts desto weniger „edlen“) Gebärde vor diesem Unheil oder Schicksal. Trostlos – die Welt, ein Jammertal und ohne Trost. Der Protagonist schreckt nicht zurück vor dieser Welt des Schreckens, so Nietzsche, er steht heroisch davor – fast schicksalsergeben und mit aufrechtem Haupt – und stürzt sich „wissend“ (die eben erkannte Welt des Schreckens) in das Verderben. Diese trostlose und edle Gebärde, Haltung – dieser Habitus, mit dem sich der Protagonist in der Tragödie dem Schicksal stellt, drückt sich uns, dem Zuschauer, wie ein „Stachel in die Seele“. Es kommt damit in dieser Konzeption zu einer „Umwertung“ der klassischen Tragödien-Konzeption, die Jürgen Söring – Nietzsche zitierend - also zusammenfasst:
„Gegen Aristoteles, der die ὄφις und das μέλος nur unter die ἡδύσματα der Tragödie rechnet: und ganz bereits das Lesedrama sanktioniert“ (KSA 7, 3 [66], 78 ), macht die Stoßrichtung Nietzsches deutlich: Er betreibt eine Umwertung der Fundierungsverhältnisse im Gesamtkunstwerk der Tragödie, und zwar in der Weise, daß nicht mehr die σύνθεσσις τῶν πραγμάτων, sondern die μελοποιία als „Vermögen der Kundgebung des Unaussprechlichen“ „die Seele der Tragödie ist, woraus zwangsläufig eine Rücknahme von Handlung und Dialog zugunsten des πάθος als jener Leidenslust an der „Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins“ folgt (Die dionysische Weltanschauung 3, KSA 1, 566), die für Nietzsche im Zeichen des Gottes Dionysos steht.“[13]
Der Zuschauer soll nicht reflektieren, überlegen, sich die Handlung bewusst machen und letztlich einen „kathartischen Effekt“ ausgesetzt werden, er soll nicht zu Stimmungen oder Affekten aufgestachelt werden – Handlung und Dialog können ruhig verschwinden. Wichtig alleine bleibe die Auflösung des „principium individuationis“, die Vernichtung also der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins, die im Pathos geschieht. Was es mit dieser Auflösung des „principium individuationis“ auf sich hat, müssen wir bei Nietzsche selbst ein Stück verfolgen. Wir orientieren uns dabei an seiner Schrift: „Die dionysische Weltauffasung“ und kehren danach zur Tragödien-Konzeption zurück.
Bevor wir dieser „dionysischen Weltauffassung“ nachfragen, fassen wir aber das bisher herausgestellte „Wesen“ der Tragödie nach Nietzsche zusammen. Das Wesen derselben ist: pessimistisch, das Dasein in ihr schrecklich, thöricht, aversiv, trostlos, umsonst. Wir können das nicht nur vom Leben in der Tragödie so sagen, sondern für Nietzsche verhält es sich mit dem Leben an sich so – dass es eben (wie im ersten Zitat) „thöricht“ sei – das Leben an sich ist durch und durch von den Ingredienzien des Pessimismus durchzogen. Diesem Pessimismus aber kann man sich „heroisch“ stellen. Das zeigt uns die „dionysische Weltauffassung“.
§ 2 - Die dionysische Weltauffassung[14]
Es gäbe nach Nietzsche zwei Zustände des Daseins, in denen der Mensch das „Wonnegefühl“ eben dieses Daseins erreiche: Traum und Rausch.[15] In der Traumwelt genießen wir den schönen Schein, die Gestalten und Formen in unmittelbarem Verständnis. Gleichwohl wissen wir auch unmittelbar, dass jeder Traum ein „Schein“ ist; dieses „Wissen“ stellt sich unmittelbar dann ein, wenn der Traum kein Traum mehr ist. Der Gott nun der Traumvorstellungen wie auch der Gott der Kunst – das ist nach Nietzsche „Apollo“.[16] Die apollinische Kunst hat als ihr Element das Schöne, die Schönheit, das Lichte – er ist der Gott des „schönen Scheines“ und zugleich der Gott der wahren Erkenntnis. Er ist zugleich der Maßsetzende, der Maß gebende Gott, der grenzziehende Gott, der die maßvolle Begrenzung inne hat, damit der Traum nicht pathologisch sei.[17]
Das Wonnegefühl seines Daseins erreicht der Mensch aber viel unmittelbarer im „Rausch“. Angesprochen ist damit die „dionysische Kunst“, das Spiel mit dem Rausch, mit der Verzückung – welches Spiel vorwiegend in zwei Mächten zum Tragen kommt: im Frühlingstrieb und im narkotischen Getränk.[18] Der Gott des Rausches nun ist Dionysos. Was geschieht in jenen beiden Zuständen des Daseins – allgemein gesprochen: im Rausch? Das „principium individuationis“ wird durchbrochen. D.h. die Unteilbarmachung, die Besonderung des Allgemeinen in Einzelwesen, das die Individualität Bedingende und Ermöglichende wird durchbrochen; so Nietzsche. Wozu? Damit die Urgewalt des Generell-Menschlichen, das Allgemein-Natürliche[19] ungebremst hervorbreche. Wir fragen wiederum – warum soll dieses Allgemein-Natürliche hervorbrechen? Weil in den beiden oben genannten Zuständen eine große „Versöhnung“ statt hat: die zwischen Mensch und Mensch und die zwischen Mensch und Natur. In der Alltagswelt, könnte man hier sagen, sind wir im abgegrenzten Sein, wir ziehen ständig Grenzen und bauen diese auf – bewusst, mit Verstand und Überlegung, mit Maß und Vernunft, kulturell und durch Tradition – es gibt hier die großen Unterschiede und auch die Natur wird bemessen, beurteilt, es werden Grenzen gezogen, Feindschaften aufgebaut, Kriege geführt – die Disharmonie kommt ungeschwächt zur Geltung. Jene dionysischen Zustände aber „versöhnen“: die Menschen untereinander (jetzt gibt es keine Standesunterschiede mehr, der Mensch ist jetzt „Mensch“ und fühlt sich zugleich eins mit der Natur. Lapidar: die Schranken sind gefallen. Es ertönt ein „Evangelium der Weltenharmonie“ (KSA 1, 555) in jenen beiden Zuständen, eine höhere, idealere Gemeinsamkeit ist Kind dieser dionysischen Geburt. Jetzt ist der Mensch nicht mehr nur Künstler – er selbst ist „Kunstwerk“, er wandelt selbst als Kunstwerk verzaubert durch die Weltenharmonie, verbunden im Rausche mit dem Sein – eine dionysische Verzückungsspitze:
„Im dionysischen Rausche, im ungestümen Durchrasen aller Seelen-Tonleitern bei narkotischen Erregungen oder in der Entfesselung der Frühlingstriebe äußert sich die Natur in ihrer höchsten Kraft: sie schließt die Einzelwesen wieder aneinander und läßt sie sich als eins empfinden; so daß das principium individuationis gleichsam als andauernder Schwächezustand des Willens erscheint.“[20]
Die Funktion der oben genannten dionysischen Zustände ist gut nachvollziehbar. Wiederum stellt sich aber die Frage: Wozu diese „Weltenharmonie“ und Zersetzung des principium individuationis überhaupt – also nicht nur funktionell gedacht? Es gibt eine „Wahrheit“, die so entsetzlich und grausam ist, dass man sie am liebsten lebenslang einsperren möchte: das ist die tragische Erkenntnis, derzufolge es das „allerbeste wäre, nicht geboren zu sein und das Zweitbeste, bald zu sterben“ (KSA 1, 35). Was führt zu dieser angeblichen Volksweisheit der Antike? Der Pessimismus, demzufolge das Dasein an sich schrecklich und entsetzlich ist. Der Mensch, der die ungeschminkte Wahrheit des Daseins sieht, der blickt in einen Abgrund des Schrecklichen, des Entsetzlichen, der sieht die erbarmungslose Moira am Werk, wie sie entstehen lässt und zugleich vernichtet, wie das Leben flüchtig dahingerafft wird und aus allen Poren das Entsetzen dampft. So kann man freilich – ganz Schopenhauerianisch – das Dasein empfinden. Um nun, so Nietzsche in der „Geburt der Tragödie“, überhaupt leben zu können, um diesen entsetzlichen Abgrunds-Blick überhaupt weiterhin ertragen zu können, bedarf es eines „Mittels“ – das ist für Nietzsche die Kunst, die zum Weiterleben verhilft. Dieses Narkotikum, um überhaupt leben zu können nach diesem entsetzlichen Anblick, das war für die Griechen die olympische Götterwelt und für Nietzsche ist es die Kunst in der Form der Musik. Es muss die Not im Grunde des Daseins so schrecklich sein, eine Not, die nötigt und bei geeigneter Konstellation überwältigende Zustände zeitigt: eine künstlerische Mittelwelt, die Tragödie. Jetzt wird das Dasein nicht mehr im Zuge des Schreckens verneint, sondern sogar bejaht, es kommt zu einem „aktivistischen, aktionistischen Pessimismus“. Keine Frage: Illusion ist unbedingt für Nietzsche not-wendig in der wortwörtlichen Bedeutung, dass die Illusion die Not im Grunde des Daseins wendet und daher um-wendet. In der Verquickung des Apollinischen mit dem Dionysischen entsteht in der hohen Zeit des Hellenentums nach Nietzsche das Kunstwerk der attischen Tragödie.[21] Hier merken wir nur kurz an, woran auch die attische Tragödie zu Grunde gegangen ist: am Sokratismus (optimistische Dialektik) und deren Ethik.[22] Diesem Eindringen des Sokratismus in das dionysische Element fragen wir hier nicht weiter nach. Wir fragen den Ingredienzien des „tragischen Menschen“ nach Nietzsche nach, der in Anspielung auf das spätere Werk durchaus ein „Übermensch“ genannt werden kann, der auch und im Wesen ein „Grenzgänger“ sein muss. Die dionysische Weltauffassung hat eine klare Stoßrichtung: es soll durch die beiden oben genannten Zustände (Frühlingstrieb/narkotisches Getränk) – insgesamt im „Rausch“ – das Einheitsband von Mensch zu Mensch und zugleich mit der Natur in einer umfassenden Weltenharmonie hergestellt werden. Der dionysische Künstler ist aber zugleich der „Schaffende“, der „Schöpfer“ – er ist nicht nur Spielfigur des Rausches, sondern Spieler mit dem Rausch. Der Dionysosdiener, so Nietzsche, muss im Rausch sein und zugleich im Rausch sich selbst beobachten können.[23] Er ist ein „reflektierender Ekstatiker“.
Was geschieht aber nach der Ekstase, die ja kein Dauerzustand bleiben kann? Dann empfindet der tragische Mensch den „großen Ekel“.[24] Das Entsetzliche und Absurde des Mensch-Seins rückt ungeschminkt heran. Jetzt steht man am Grenzweg - man ist in gewisser Weise ein „Grenzgänger“, denn: Entweder geht man in der Welt des Ekels unter, man erträgt ja den Anblick des Entsetzlichen (nach dem Rausche) nicht, entweder man wird von der dionysischen Gewalt verschlungen, wird von einer verneinenden Stimmung fortgerissen – oder: man bewältigt die Umkehr und wendet sich dem Leben zu. Das geht aber nur mit einem starken Narkotikum, das in der Lage ist, die schreckliche Wahrheit am Grunde des Daseins zu verhüllen. Dieses Mittel zur Bewältigung ist das tragische Kunstwerk und die tragische Idee.[25]
Der tragische Mensch ist: ein Ekstatiker, ein Dionysosdiener, er gibt sich dem Rausch hin. Weiters blickt er, wenn der Rausch zu Ende ist, mit Entsetzen und Ekel in die Welt der alltäglichen Wirklichkeit und hält diesen Blick ungeschminkt aus. Er versteht jetzt, nach Nietzsche, die Weisheit des Silen, nämlich dass es das Beste sei, niemals geboren zu sein. Der Tragiker ist aber ein „Schaffender“ – er hat die Kraft zur Wende, zum Umbiegen des Ekelhaften in das Lebbare. Der tragische Mensch wandelt das Entsetzliche, das Absurde des Daseins in Vorstellungen um, mit denen er dann leben kann. Letztlich entsteht ein Kunstwerk – eine Mittelwelt. Der Ekel am Dasein wird zum Schaffen umgebogen: der tragische Künstler ist geboren.
Es stellt sich hier die wichtige Frage, welche Rolle das Apollinische, die apollinische Klarheit – deren extremer Ausläufer die moderne Wissenschaft genannt werden kann - im tragischen Menschen spielt. Ob das Apollinische in dieser Form als Wissenschaft und als Wissens-Trieb das tragische Element beschleunigt. Wissenschaft und Kunst schließen sich nach Nietzsche aus – beide sind aber im Apollinischen und Dionysischen grundgelegt. Der Konflikt ist also unvermeidbar und daher – tragisch? Sokrates ist für Nietzsche der Vernichter des Musikdramas, d.h. letztlich der Kunst; der sokratische Optimismus ist der Tod der pessimistischen Weltauffassung. Das aber darf nicht sein, mindestens dann nicht, wenn man dem Pessimismus geweiht ist. Jede Dialektik ist ihrem Wesen nach optimistisch angelegt; im Grunde des Daseins aber raunt eine schreckliche und gar nicht optimistische Wahrheit – das Schreckliche und das Entsetzliche; das ist die Grund-Wahrheit, der gegenüber jeder Optimismus unangebracht und lächerlich erscheint. Heißt tragisch gesinnt sein dann: in sich selbst den Trieb zum Wissen (Optimismus – das Apollinische) und zugleich den Trieb zur Verneinung des Daseins (Pessimismus – das Dionysische) aushalten müssen und final daran scheitern? Was heißt dann scheitern? Heißt es zu Grunde gehen? Dann hätte das Dionysische die Oberhand. Für Nietzsche aber gibt es glücklicherweise die Kunst als Mittelweg, als Medium des Überlebens.
Bevor wir die Figur des Empedokles als sogenannten „reinen tragischen Menschen“ beleuchten, sollen zusammenfassend die wesentlichen Elemente des „tragischen Menschen“ angeführt werden.
Der „tragische Mensch“ (von dem zu fragen sein wird, ob er auch ein „tragischer Künstler“ sein muss; eine weitere Frage wird sein, was dann ein „tragischer Philosoph“ ist) vereinigt in sich folgende Merkmale: heroisch (er stürzt blind in sein Unheil), pessimistisch (die Tragödie ist ihrem Wesen nach pessimistisch) – angstlos (er soll weder Tod noch Zeit fürchten) – transzendierend (sich etwas Überpersönlichem weihen, hingeben) – gefasst (er blickt in den schrecklichen Daseins-Abgrund und hält diesem Blick Stand) – tragisch gesinnt (er sieht den ubiquitären Untergang und geht erhobenen Hauptes in denselben) – Grenzgänger (zwischen Wissenschaft und Kunst, dem Apollinischen und dem Dionysischen).[26]
In den Fragmenten vom September 1869/1870 – Januar 1871 (KSA 7, 118 sqq.) finden sich weitere Ingredienzien zur „Tragik des Menschen“: schöpferisch (der tragische Mensch ist schaffender Ausdruck der höchsten Kraft der Natur, des Schaffens und des Erkennens) – Lehrer der Menschen (die tragische Natur sei Maßstab der Bildung) – langweilend (der Tragiker ist der Langeweile ganz besonders ausgesetzt – KSA 1, 27) .
In der klassischen Tragödien-Theorie scheitert der Protagonist unausweichlich am tragischen Konflikt, was nicht unbedingt zu seine Vernichtung führen muss. Zu fragen bleibt, was das tragische Scheitern eigentlich besagt: es kann Untergang (Vernichtung) bedeuten, Drangegebenheit des principium individuationis und Ermächtigung des Schicksals – oder heißt es gar, wie im Falle von Empedokles oder Nietzsche selbst, am „Mitleiden“ tragisch scheitern und zu Grunde gehen?
§ 3 - Empedokles: „…der reine tragische Mensch“[27]
Wir beginnen unsere Untersuchung mit einer Bemerkung Nietzsches, die sich in den Fragmenten der Frühzeit wiederfindet. Dort bemerkt Nietzsche über den „tragischen Menschen“:
„Der tragische Mensch ist die Natur in ihrer höchsten Kraft des Schaffens und des Erkennens und deshalb mit Schmerzen gebärend: Die Menschen sind meist nach einer Seite hin ausgeartet, selbst bei höchsten Talenten.“[28]
Der tragische Mensch ist offenbar im Wesen einer, der in sich zwei Kräften unterworfen ist: dem Schaffen und dem Erkennen. Beide Seiten kommen in ihm zur höchsten Entfaltung; er ist ein Medium dieser Kräfte. Der tragische Mensch (Künstler?) ist einer, der erkennt. Frage: Was erkennt er? Antwort: die Nichtigkeit des Daseins.[29] Und eben dieses Erkennen erzeugt einen „Ekel am Dasein“. Der Tragiker aber vermag diesen Ekel als Mittel zum Schaffen umzubiegen.[30] Dieses Schaffen kann „heiligend“ sein: die antike Olympierwelt, oder es kann künstlerisch sein: die attische Tragödie. Damit wird der Ekel realiter schaffend „verschleiert“ – ein Weiterleben wird möglich. Die Kunst ist dann Medium des Weiterlebens.
Dieses tragische Geschehen ist offenbar „schmerzvoll“, ein Widerstreit und oft vermutlich eine Aporie, ein Zwist und ein Grenzgang zwischen zwei Welten, die sich in ihren Extremen ausschließen: denn, Wissenschaft schließt Kunst aus. Wenn das Apollinische und das Dionysische verschmelzen, dann entsteht im tragischen Künstler eine höhere Möglichkeit des Daseins: es kommt zu einer Verherrlichung eben dieses Daseins (das ja durchaus schrecklich ist) durch die Kunst auf einer höheren Ebene.[31]
Was nun für den tragischen Menschen zutrifft, das kommt dem „reinen tragischen Menschen“ ganz besonders zu.[32] Empedokles ist für Nietzsche dieser Sonderfall eines „reinen tragischen Menschen“, ein tragisches Super-Exemplar offenbar, an dem sich klar ablesen lässt, was es heißt, „tragisch“ zu sein. Wir werden nun in der Folge dem „historischen Empedokles“ nachfragen, und zwar insbesondere im Lehrgedicht der „Katharmoi“. Die Fragmente des Empedokles werden bekanntlich in zwei Lehrgedichten überliefert: a) Peri physeos und b) Katharmoi. Auf den ersten Blick wäre freilich die Überlegung, dass Peri physeos dem Apollinischen und die Katharmoi dem Dionysischen zuzuordnen wären, reizvoll; tatsächlich liegen die Dinge nicht so einfach, wenn auch die „Katharmoi“ als das „religiöse Lehrgedicht“ des Empedokles bezeichnet werden.
Vorweg noch ein Hinweis: Die Legende vom Sturz des Empedokles in den Krater des Ätna ist berühmt und lässt, wie auch Söring (S. 185 f.) betont, tragischen Interpretationsraum. Ist dieser Untergang des Empedokles tatsächlich schon tragisch? Stürzt er wenigstens „heroisch“ in den Ätna, mit ungelösten Konflikten in sich? Wir können das nicht entscheiden und halten uns daher an die Fragmente.
Wir bemerken in den „Katharmoi“ einen pessimistischen Grundzug. In Fragment B 114[33] spricht Empedokles die „Freunde“ an; die Botschaft, die er bringt, verheißt aber nichts Gutes:
„Ihr Freunde, ich weiß, daß Wahrheit den Geschichten innewohnt, die ich enthüllen werde; mühevoll aber und mit Argwohn behaftet ist für die Menschen das vertrauensvolle Drängen zum Herzen.“
Hier wird ein „mühevoller“ Gang angesprochen und: Empedokles spricht hier über „die“ Menschen, also vermutlich über das Mensch-Sein an sich. Was heißt aber das „Drängen zum Herzen“? In diesem Kontext liegt wohl die vorweggenommene Vermutung des Empedokles, dass die Menschen seiner Wahrheit, die er ja verkündet und die er enthüllt, dass eben diese Wahrheit „argwöhnisch“ und nur „mühevoll“ angenommen und eingesehen werden wird. Empedokles kennt die Menschen und hat als Weitgereister vielfältige Erfahrungen gesammelt. Er ist also in diesem Fragment alles andere als „optimistisch“ gestimmt; im Gegenteil. Wir wagen die Auslegung, dass Vorsokratiker um die verstockten und schwer zugänglichen Herzen der Menschen wusste. Dass man ihm ruhig „vertrauen“ könne, dass er ja - wie im Proömium verkündet – jetzt als „Gott“ zu den Menschen spricht (ein weiteres Indiz für die Inthronisierung einer unumschränkten und daher vertrauenswürdigen Autorität), das fordert Empedokles hier ein. Das Proömium hat vorwiegend auch die Funktion, die eigene Kompetenz und Autorität[34] zu zelebrieren. Warum, muss man sich fragen. Vielleicht deshalb, weil Empedokles ahnte, dass das Volk nur einem „Gott“ Vertrauen schenken würde? Vielleicht ahnte der Philosoph schon zum Voraus das Scheitern seiner Botschaft; ganz wie der „tragische Zarathustra“ in der Vorrede 4-5:
„Als Zarathustra diese Worte gesprochen hatte, sah er wieder das Volk an und schwieg: „Da stehen sie“, sprach er zu seinem Herzen, „da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren.“[35]
Die nachdrückliche Betonung der eigenen veritativen Botschaft hat ihren Grund vermutlich in der pessimistischen Einsicht, dass diese Rede „umsonst“ sein könnte. Empedokles hat eine wahre Einsicht, er beansprucht Wahrheit, hat - ganz nach Nietzsche – Einblick genommen in das Wesen der Dinge, vermutlich in den „Abgrund“ geblickt (das steht noch nicht fest); jetzt hat er etwas zu berichten; er will seine Wahrheit, die nicht nur „seine“ subjektive Angelegenheit sein kann, verkünden. Er scheitert an der Verkündigung. Ist das schon tragisch? Heißt Tragik dann auch: verständigungslos bleiben – unverstanden sein – an der Verständigung scheitern; zumal dann, wenn es sich um beanspruchte Wahrheit handelt? Was, wenn man auf seinen Wahrheiten sprichwörtlich „sitzen bleibt“? Gehört nicht die Einsamkeit dann im Wesen genauso zum „tragischen Menschen“? An dieser Stelle stellt sich die Frage: Warum will Empedokles überhaupt seine Wahrheit los werden, warum schreiben Philosophen, wozu wollen sie dem Volk etwas verkünden und warum bleiben sie nicht in der Einsamkeit? Warum steigen sie wie Zarathustra vom Berg herab und suchen das Volk? Tragisch wäre dann vielleicht tatsächlich, zeitlebens unverstanden zu bleiben. Der Sprung in den Ätna könnte auch als Sinnbild für das Verschwinden in der Verschwiegenheit und Einsamkeit gedeutet werden; so zu verschwinden ist dann nicht nur das Los des Zarathustra, der ja zum Ende hin noch die „rechten Menschen“ sucht[36], dann aber vollends davon ablässt und seinem großen Mittag entgegengeht. Nietzsche selbst wird auch in der Verschwiegenheit verschwinden. Und Empedokles? Für Karin Alt besteht hier kein Zweifel: Empedokles wollte die Tristesse des irdischen Daseins betonen.[37]
Fragment B 114 zuzüglich das Proömium zeigen erste Merkmale einer „tragischen Gesinnung“: pessimistischer Grundzug – gefasst (Einblick in eine zu verkündende Wahrheit) und (vorgreifend auf das Proömium) transzendierend (Empedokles wandelt nicht mehr als Mensch, sondern als „Gott“ – er ist etwas Über-persönlichem ausgesetzt, ausgeliefert, geweiht).
Sehen wir weiter zu.
„Weshalb aber nachdrücklich betonen – als ob es eine besondere Leistung wäre -, daß ich den vielfachem Verderben ausgesetzten Menschen überlegen bin?“[38]
Der Agrigentiner weiß offenbar um das „Verderben der Menschheit“, er kennt die Schuldverstrickung und auch den Weissagungsspruch der Götter (B 115). Für Optimismus bleibt hier wenig Platz, denn er selbst ist ja auch ein Verbannter, „der sich rasendem Hasse vertraute“ (B 115). Zugleich aber fühlt er sich „überlegen“. Was will diese „Überlegenheit“ ausdrücken? Ist es die Überlegenheit des nunmehrigen Gottes gegenüber der schuldverstrickten Masse? Fühlt er sich überlegen, weil er mehr weiß als die anderen, ein Wissen, das tiefer reicht und der Wahrheit näher liegt? Ist es heroisch von Empedokles, dass er nicht zurückschreckt vor der kommenden Verderbnis der Menschheit, ihr ins Auge blickt und diese Wahrheit auch verkünden will – ungeschminkt? Ist es heroisch, dass Empedokles dennoch – allen Bedenken und Ahnungen vom Scheitern der Übermittlung zum Trotz – als Verkünder die Bühne betritt? Wir werden diese Frage hier nicht beantworten können, denn zum Heroismus nach Nietzsche gehört unbedingt, dass sich der tragische Protagonist „blind“ (schicksalsergeben – dennoch wissend) dem Untergang weiht. Pessimismus aber ist in jedem Falle in Fragment B 113 ein Grund-Ton. Fragment B 124 soll noch einmal den Pessimismus des Empedokles klar zum Vorschein bringen:
„Wehe dir, du jämmerliches Geschlecht der Sterblichen, du gänzlich unglückseliges! Aus solchen Klagen und Seufzern seid ihr geboren.“[39]
Das Fragment bedarf in Hinsicht auf Pessimismus kaum einer Interpretation. Pessimismus, so sagten wir weiter oben, sei eine grundlegende Haltung, der gegenüber alles Werden und Vergehen „vergeblich“ ist – ein großes „Umsonst“. Wie ist es um die tragische Gesinnung des Empedokles bestellt? Sieht er die fruchtbare Wahrheit am Grunde des Seins, sieht er klar das Schreckliche, das Entsetzliche, schreckt er nicht davor zurück und geht sogar erhobenen Hauptes mit in den Untergang? Die Ätna-Legende legt diese heroisch-tragische-Gesinnung nahe. Nietzsche spricht den „Tod des Empedokles“ in KSA 7, 5 [94], klar an; mit dem Hinweis: Wissenstrieb.[40] Das Wissen macht eben „Fausten“, der Drang, alles wissen zu müssen, der Trieb nach Allwissenheit. Der Sprung – aus Wissenstrieb? Fragment 7 [101] (KSA 7) bezeichnet die Wissenschaft als „tragische Wissenschaft“, die sich da wie Empedokles in das Verderben stürzt. Das Wissen mach Fausten: es ist das Wissen ohne „Maß und ohne Grenze“. Dieses Wissen führt sich dann selbst ad absurdum und stürzt - wie Empedokles – in den „Ätna“, d.h. in die Vernichtung. Empedokles ist ein „Wissender“, der mit dem Anspruch auf Wahrheit auftritt. Das apollinische Element ist in ihm klar ausgeprägt und reicht in eine Tiefe, die das Verderben „geschaut“ hat. Warum aber springt er in den Ätna? Aus Wissenstrieb? Das alleine wird nicht reichen. Nietzsche zeichnet einen „zerissenen Empedokles“, der hin und hergerissen als Verkünder auftritt, denn: „Er sehnte sich nach Kunst und fand nur das Wissen“.[41] In Empedokles´ Brust schlugen zugleich zwei Herzen – verkürzt: das apollinische und das dionysische. Er sehnte sich nach Kunst? Keine Frage, Empedokles ist ein „Schaffender“, einer, der den Abgrund erblickt, vermutlich den Ekel aushält und die Kraft zum Schaffen mitbringt. D.h. er ist in der Lage, die Illusion einer verklärten Wirklichkeit (Götter-Welt, er selbst ein Gott) zu schaffen. Wir erinnern uns aber an dieser Stelle daran, dass die Kunst als Medium bei Nietzsche zum „Weiterleben“ benötigt wird. Empedokles aber scheitert, er geht unter, springt in den Ätna – er lebt gerade nicht weiter. Er fand, nach Nietzsche, keine Kunst, sondern nur das Wissen.
Empedokles geht demnach am „Wissen“ zu Grunde? Er sehnte sich nach Kunst. Ist das eine Vermutung von Nietzsche? Unterstellt er Empedokles eine dionysische Sehnsucht? War Empedokles ein Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Kunst und ist er daran zerbrochen, tragisch untergegangen?
In Fragment B 115 kommen alle oben angeführten tragischen Elemente zum Tragen; der antike Philosoph zeigt sich hier als „tragischer Mensch“, denn er ist ja hier ein Verbannter. Pessimistisch ist das Fragment allemal. Geschildert wird der Fall des „Gottes“, die Schuldverstrickung und das mühselige Umherirren im Jammertal des Lebens. Empedokles weiß um diese Schuldverstrickung, er kennt die Wahrheit und nimmt sie heroisch auf sich: denn diesen Weg gehe er jetzt eben selbst, ein Verbannter, ein Landstreicher, der rasendem Hass vertraute. Es gibt hier ein Schicksal und eine ausgleichende Gerechtigkeit. In B 115 kommt aber eine „moralische Komponente“ ins Spiel.[42] Das Verhalten der Menschen als auch der Götter ist exekutierbar geworden. Man kann schuldig werden, für sein Verhalten werde man eben zur Verantwortung gezogen. Das passt aber gar nicht zur „tragischen Gesinnung“ von Nietzsche, der von Moral und Schuld in diesem Sinne nichts wissen will. Im Gegenteil: dem Schicksal (der Wahrheit) ist nicht zu entkommen, heroisch ist es anzusehen und aufrecht muss der Untergang in Kauf genommen werden; das ist die „tragische Gesinnung“.
Es ist nicht wegzuwischen: Empedokles will die Menschen aufrütteln, er will ihnen die „Schuld-Verstrickung“ offen legen. Die Menschen handeln ohne Einsicht in ihr Tun und deshalb bedarf es eines „Sehers“, der ihnen Kunde bringt von der Verschuldung und auch davon, dass diese Verschuldung nicht unbedingt notwendig sein muss. Nach Alt sei die schwerste Verschuldung das „Töten“.[43] Denn die Blutschuld könne auch vermieden werden (Alt, 407) und damit haben die Menschen Einfluss auf ihre weitere Existenz. Dennoch ist die Seligkeit, so Alt, nicht für alle Menschen vorgesehen, sondern nur für Eingeweihte.
Der „moralische“ Empedokles lässt sich also wesentlich nicht wegstreichen. Ist das aber nicht ein Widerspruch, mindestens in Ansehung der Nietzscheschen „tragischen Gesinnung“? Es ist insofern kein Widerspruch, als Nietzsche Empedokles klar den Zug des „Mitleidens“ unterstellt. Dann gehört das Mitleiden zur tragischen Gesinnung? Nein, und daran wird auch (vgl. hierzu Söring) der Empedokles-Plan als „Tragödie“ scheitern. Nietzsche lässt nach Söring mit dem Empedokles-Plan das klassische Tragödien-Konzept zurück (Söring, 207). Es kommt nicht mehr zu einer Verneinung und zum Untergang, sondern zu einer „Bejahung des Lebens“ in der Form des Übermenschen, der zwar nicht mehr in der Tragödien-Form Platz findet, aber sich geradezu dadurch auszeichnet, dass er das „Mitleiden“ überwindet (vgl. hierzu das Schlussstück des Zarathustra, wo das „Mitleiden“ als letzte Sünde bezeichnet wird). Wer daher noch Mitleid mit den Menschen hat, der bemüht sich, will helfen, will eine Wende herbeiführen. Wer Mitleid hat, der ist noch moralisch. Das Mitleid fehlt aber dennoch in der tragischen Gesinnung und hat hier keinen Platz. Wie kann also Nietzsche Empedokles in der gesteigerten Form als „reinen tragischen Menschen“ bezeichnen und ihm gleichwohl das Mitleiden zugestehen? Wie geht das Tragische mit dem Mitleiden zusammen, wie die Tragik mit der Moral?
„Ich glaube: die Reformation wäre möglich gewesen, wenn ein Tyrann ein Empedokles gewesen wäre.“[44]
Ein Tyrann aber ist über das Mitleiden erhaben; mindestens temporär. Empedokles ist übervoll mit Mitleid; der Beschluss, das Volk zu vernichten (KSA 7, 5 [116]), wird aufgegeben. Er selbst wählt den Untergang. Das Mitleiden fügt sich nicht zur tragischen Gesinnung, es gehört nicht zu den von uns oben angeführten Elementen der tragischen Weltauffassung nach Nietzsche; im Gegenteil: die heroisch-tragische Gesinnung, die im Übermenschen weiterleben wird, verwehrt das Mitleiden und wertet dasselbe als „letzte Sünde“ um.
§ 4 - Ergebnis und Ausblick
Wir wählten als Überschrift unserer Untersuchung den Titel: „Der tragische Mensch als Grenzgänger“ und folgen damit Jürgen Sörings Interpretation, dass der „tragische Mensch“ nach Nietzsche eine „Krisen-Figur“[45] sei, die sich zwischen zwei Welten, der mythischen einerseits und der wissenschaftlichen oder logischen andererseits, bewegt. Somit ist der tragische Mensch in eine Umbruchs-Zeit versetzt und nicht mehr ganz einer Welt zugehört. Ist das aber schon hinreichend, um tragisch gesinnt zu sein? Der tragische Mensch – eine Krisen-Figur. Das trifft in jedem Falle auf Empedokles zu; denn tatsächlich treffen die oben angeführten tragischen Ingredienzien auf den „Seher und Heiler“ aus Akragas zu. Ein Zug aber will und will sich nicht in dieses Konzept einfügen: das Mitleiden. In Fragment 5 [118] (KSA 7) beschließt der Philosoph noch Vernichtung des Volkes - „tragisch gesinnt“ – und kurz darauf wird er wahnsinnig und verkündet die Wiedergeburt; er selbst verschwindet und ein Freund stirbt mit ihm. Was hält ihn davon ab, das Volk zu vernichten? Das Mitleid hält ihn zurück; es ist das Mitleiden mit dem Volk – Empedokles ist ein durch und durch „moralischer“ Mensch und diese Zerrissenheit wird es sein – mindestens in der Version von Nietzsche – die ihn untergehen lässt. Empedokles ist tragisch gesinnt; er ist Pessimist, Transzendierender, Lehrer, Wissender, Verkünder, Heiler, Schaffender, Untergehender – ein Heroe. Das alles würde ihn tatsächlich zu einem reinen Paradigma des tragischen Menschen nach Nietzsche stilisieren. Aber: Empedokles ist im Wesen „mitleidig“, er will das Volk vor dem Untergang bewahren, er kennt die Wahrheit und will sie weitergeben, verkünden – er hat noch Mitleid – die letzte Sünde nach Nietzsche (KSA 4).
Ein „reiner tragischer Mensch“ kann aber in keinem Fall ein „mitleidiger Mensch“ sein. Mitleid kann keinen Untergang vorantreiben, bejahen und sich wie blind in die Vernichtung stürzen – eben tragisch-heroisch. Im Gegenteil: wer mitleidet, der will helfen, bewahren, lindern, Abhilfe schaffen – der bejaht das Leben; der ist letztlich kein Pessimist mehr, sondern ein „Optimist“. Dann aber ist man keine tragische Figur mehr; mindestens nach Nietzsche nicht. Denn der Sokratismus als Optimismus ist das zersetzende Element jeder Tragödie und somit der Tod der Tragödie.
Kommt es daher bei Nietzsche deshalb zum Scheitern der Empedokles-Tragödie, weil das Mitleid in dieser Form niemals tragisch zu bewältigen ist? Zu diesem Ergebnis kommt Jürgen Söring in seiner Untersuchung; wir schließen uns diesem Ergebnis an.
Ein „reiner tragsicher Mensch“ nach Nietzsche müsste einer sein, der das Mitleiden hinter sich gelassen hat – ein Übermensch wie der spätere Zarathustra. Das Mitleiden drängt noch zum Anderen, sucht noch das Volk, sucht Gleichgesinnte, nimmt Anteil. Sie alle: Empedokles, Heraklit – die alten Philosophen nach Nietzsche, Zarathustra und Nietzsche selbst, sie alle waren „tragische Menschen“ im Zeitalter des Übergangs. Das Mitleid aber konnten sie allesamt nicht abschütteln. Ist so etwas überhaupt möglich? Ist man dann erst ein „reiner tragischer Mensch“?
Wir schließen mit einem Gedicht von Selma Meerbaum-Eisinger, das überschrieben ist: Tragik.
Tragik
Das ist das Schwerste: sich verschenken
und wissen, daß man überflüssig ist,
sich ganz zu geben und zu denken,
daß man wie Rauch ins Nichts verfließt.
Was, wenn das „reine Tragik“ wäre? Reine Tragik wäre dann der Untergang mit einer Wahrheit im eisigen Schweigen, man sucht nicht mehr die Anderen, sondern hält an sich. Das ist mitunter der vollendete Pessimismus; Empedokles verschwindet - der Legende nach – wie „Rauch ins Nichts“ und Nietzsche selbst wird auch wie „Rauch ins Nichts“ verschwinden; also doch „reine Tragiker“?
Literaturverzeichnis:
Alt, Karin: Einige Fragen zu den Katharmoi des Empedokles. Vol. 115, No. 4. Hermes. Franz Steiner Verlag 1987. www.jstor.org/stable/4476586
Hoffmeister, Johannes: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Meiner: Hamburg 1955.
Mansfeld, Jaap: Die Vorsokratiker I und II. Reclam: Stuttgart 2007.
Meerbaum-Eisinger, Selma: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Hrsg. von Jürgen Serke. Hoffmann und Campe: Hamburg 2008.
Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. dtv – de Gruyter: München 1999.
Rösler, Wolfgang: Der Anfang der Katharmoi des Empedokles. Vol. 111, No. 2. Hermes. Franz Steiner Verlag 1983. www.jstor.org/stable/4476309
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Sämtliche Werke. Suhrkamp: Frankfurt a. Main 1995.
Söring, Jürgen: Nietzsches Empedokles-Plan, in: Nietzsche-Studien, Bnd. 19. Walter de Gruyter: Berlin – New York 1990.
Das Sein des Nicht-Seienden
Die dialektische Fundamentalbetrachtung (Sophistes 254b – 259d / 40-43)
Die Dialektik der μέγιστα γένη
Thomas Buchhas
40 [534]
254b7 sqq Die δύναμις κοινωνίας (Boden der folgenden Betrachtung)
254c3 sq Auswahl der μέγιστα γένη
254d4 sq [536] Vorgegebenheit von κίνησις / στάσις / ὄν
255b3 Eigenständigkeit von ταὐτον und ἕτερον gegenüber κίνησις und στάσις
255b8 sq Eigenständigkeit von ταὐτον und ἕτερον gegenüber dem ὄν
Abgrenzung des ἕτερον gegen das ὄν: ἕτερον ist notwendig: anders-als; wenn ἕτερονund on dasselbe Feld hätten – und wenn es onta gibt kath auto – dann müsste es auch Andersheiten geben, die nicht anders sind im Charakter des Anders-als. In jedem heteron ist ein on – nicht in jedem on ist ein heteron. [546]
Anm. 161*: alle 5 Ideen unterscheiden sich voneinander, jede ist anders als die anderen; das Anderssein einer Idee ist nicht in ihrer physis (Natur) selbst begründet; sondern aufgrund der Teilhabe an der Idee der Andersheit;
41 [548]
255 e8 sqq – Die δύναμις κοινωνίας des ἕτερον
I - ταὐτον (256a7 sq)
II – στάσις (256b6 sq)
III - ἕτερον (256c5 sq)
IV - ὄν (256c11 sq)
I – die κίνησις ist mit sich selbst „dasselbe“, weil sie an der Idee des ταὐτον Teil hat; sie ist aber zugleich nicht die Selbigkeit in Bezug auf den kategorialen Gehalt, ist also verschieden von der Idee Selbigkeit. Kinesis ist zugleich mit sich „dasselbe“ und zugleich nicht „Selbigkeit“ – sie „dasselbe“ (Kleinschreibung: Partizipierendes) und zugleich nicht „Dasselbe“ (Großschreibung: partizipierte Idee). Die Bedeutung ist aber verschieden: „dasselbe“ in Bezug auf sich selbst (aufgrund der transzendentalen Teilhabe an der Idee Selbigkeit); // nicht „Dasselbe“ (die Idee Selbigkeit, kategorialer Gehalt) auf Grund der Teilhabe (koinonia) an der Idee „Andersheit“ (heteron); durch diese transzendentale Teilhabe (koinonia) ist sie von der Idee Selbigkeit getrennt – ist nicht [Verneinung] jene Selbigkeit, sondern etwas anderes – und daher nicht „Dasselbe“. [Ermöglichende Grundlage dieser Betrachtung ist die dynamis koinonias – die Möglichkeit des Hinblicks auf…Gemeinschaft mit den anderen Ideen; ] Fazit: kinesis ist tauton und nicht tauton.
General-Fazit: (Anm. 163*: das „relative Nicht-Sein der Idee kinesis in Bezug auf: stasis, tauton und heteron.)
II – kinesis und stasis schließen sich in ihrem sachlichen Gehalt aus. (Hinweis: Antisthenes – identifizierender lógos: kinesis = kinesis; stasis = stasis); ist aber stasis mit der kinesis „da“? (b6 sq)
[Phänomen: γιγνώσκειν (schließt κίνησις und στάσις schon in sich ein – Kap. 35 / 248d1 sq. in einer Seele kommt ihm beides zu 249a8 sqq) – das Erkennen ist Bewegung und als Bewegung auf das Seiende, das erkannt werden soll – kinesis eis aei – auf das Immer-Seiende – stasis; ergo: mit der kinesis ist stasis da]
Folge: Das Mit-da-sein von stasis in der kinesis berechtigt zu sagen: kinesis und stasis: nicht nur ἐναντία; sondern: ταὐτόν.
General-Fazit: kinesis und stasis sind sowohl: heteron als auch tauton.
III – kinesis ist auch etwas anderes als das heteron (Andersheit [553]); (Doppelbedeutung von heteron: Bewegung ist „anders“ als „Andersheit“; 1. die „Idee kinesis“ ist anders als die „Idee heteron“; 2. Zugleich ist kinesis aber dasselbe, ist sie tauton – sie ist nicht die Idee Andersheit und ist daher ein „Anderes“, hat daher an der Idee Andersheit teil; erst wenn die kinesis in gewisser Weise mit sich hat das heteron, erst dann ist der Satz möglich: kinesis ist auch etwas anderes als das Andere (c5 sq);
General-Fazit: kinesis (Bewegtheit) und heteron (Andersheit) sind „anders“ – in der kinesis ist das heteron mit da; daher: die kinesis ist im Sinne der koinonia „tauton“ mit dem heteron. Folge: die kinesis ist nicht im Sinne der Andersheit und ist es zugleich, insofern sie eben von der Andersheit verschieden ist – anders – ist, heteron ist.
General-Fazit II: kinesis ist gegnüber: tauton – stasis – heteron: sie selbst und nicht sie selbst! [554]
IV - [Das Anderssein der kinesis als Nicht-Sein] – ist die kinesis auch etwas „anderes“ als das on? Ist die kinesis nicht nur on (kinesis „ist“ ja, die Idee des Seins ist in der kinesis mit da) – sondern ebenso wie mit den anderen 3 Ideen: ist die kinesis auch verschieden vom on, heteron vom on - ergo: ein μὴ ὄν?
Alles Seiende „ist“ (hat Anteil an der Idee on) – und alles Seiende ist zugleich ein Nicht-Seiendes (hat Anteil an der Idee des heteron) und ist daher die Idee on nicht diese Idee on kath hauto.
Anm.*166
Das heteron ist in jedem der möglichen eide da, es ist mit ihnen präsent, das heteron hat mit allen eide koinonia.
257b3 sqq – Bestimmung des Begriffs des μὴ ὄν. [558]
42 – [562]
257c7 sq – Das ἕτερον als ἀντίθεσις – das μὴ ὄν als οὐσία
General-Fazit: ( auch Anm. 173*): Das konkrete Andere in der Andersheit ist um nichts weniger als das, wogegen es gesetzt ist, da: οὐσία. [565] – das me on ist antithesis – antithesis ist die Struktur des heteron – das heteron ist ein dia panton (256e1).
Kritische Bemerkung: Was besagt „relatives Nicht-Seiendes in Eigentlichkeit“ (die „Idee“ desselben)? Und was besagt „relatives Nicht-Seiendes in Uneigentlichkeit“?
43 [567]
SOPHISTES
Über die vierfache κοινωνία im λόγος
[Bemerkungen zum § 80: Die Analyse des λόγος (261c-263d) bei Martin Heidegger
HGA 19, Sophistes]
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung……………………………………………………………………......3
A) 80 – Die Analyse des λόγος (261c-263d)……………………......................5
B) Die onomatische koinonia zwischen ὄνομα und ῥῆμα als πλέγμα (583 sqq. 6
C) Aufweis der logischen und intentionalen koinonia des logos (597 sqq.) –
das legomenon qua legomenon - das Gesagte als Gesagtes – als Offenbarmachendes (= qua deloumenon)
D) Aufweis der delotischen koinonia des logos……………………................ 9
E) Zusammenfassung…………………………………………………………11
Literaturverzeichnis………………………………………………………………12
EINLEITUNG
Der „Sophist“ ist die verkörperte Existenz des Nicht-Seienden, des me on; das ist zumindest die Behauptung von Martin Heidegger in seiner großen Vorlesung über den „Sophisten“.[1] Es gibt die täuschende Rede, es gibt den Trugredner, es gibt die Täuschung und die falsche Rede und, so könnte man jetzt folgern, es gibt diese Trug-Phänomene deshalb auch, weil sie in ausgezeichneter Weise im Verhalten des Sophisten versammelt sind. Es ist ein untrügliches Kennzeichen eines Sophisten, dass er in seinen Reden trügt, betrügt, das Falsche sagt und damit unterscheidet sich der Sophist vom Philosophen, der folglich die Wahrheit sagt. Aber gibt es überhaupt eine „falsche Rede“, gibt es die Lüge, die Täuschung überhaupt – ist ein lógos pseudes überhaupt möglich? Wenn es nur identifizierende Rede gäbe (Antisthenes) und allein diese wahr wäre? Dann wäre die Lüge, dann wäre das Trugreden ein Nicht-Seiendes und wenn es so stünde, dann hat der Sophist leichtes Spiel. Denn nach dem Diktum des Parmenides ist es nicht möglich, dass das Nicht-Seiende auch „sei“; von diesem Weg der Erforschung solle man sich fernhalten. Nur das Seiende „ist“. So ist klar: Wenn es das me on gar nicht „geben“ kann, dann ist auch der lógos nicht mit dem me on verbindbar und daher kann es auch keinen pseudes lógos geben. Der Sophist versteckt sich hinter Parmenides.
Platon weist in seiner Betrachtung über die obersten Stämme – die 5 megista gene – nach, dass das on sowohl mit dem tauton als auch mit dem heteron durchgehend (dia panton) in Gemeinschaft (koinonia) steht. Das Anders-Sein (heteron) zeigt sich als „me on“ – als „Nicht-Seiendes“. Nicht-Seiend bedeutet nicht überhaupt nicht-seiend, sondern eben „anders-seiend-als“. Das ist das Ergebnis der me-on-Analyse des Platon in seinem „Sophistes“. Das „me on“ gibt es (gegen Parmenides) und damit ist die erste große und wichtige Hürde gegen den Sophisten genommen. Jetzt gilt es aber noch, diese Analyse der megista gene auf den lógos selbst zu beziehen, bzw. den lógos in seiner genuinen koinonia mit dem tauton bzw. mit dem heteron aufzuweisen. Erst dann wird erwiesen sein, dass der lógos in sich eine koinonia mit dem heteron aufweist und dass der „lógos pseudes“, das Kriterium der Identifizierung des Sophisten, möglich ist und dass es ihn gibt – personifiziert in der Existenz des Sophisten selbst.
Die nachfolgende Betrachtung zeichnet den Weg Heideggers im Übergang von der Fundamentalbetrachtung der megista gene zur lógos-Analyse in den wichtigsten Schritten nach.
A)§80 – Die Analyse des λόγος (261c-263d)[2]
a) Über die vierfache κοινωνία im λόγος
Heidegger fasst im § 80 d/γ das Resultat der Analyse des λόγος in einer 4-fachen Gemeinschaft (κοινονία) zusammen: Demnach gilt es zu unterscheiden:
Wenn der Sophist in seiner Existenz möglich sein soll und von Platon in dieser aufgedeckt werden muss, der Sophist als „Scheinkünstler“ (7. Definition) und zugleich als ἀντιλογικός, als Eristiker, als Trugredner, der, der einem „falschen lógos“ nachjagt, dann kommt dem lógos insgesamt im „Sophistes“ eine entscheidende Bedeutung zu: Denn das Reden – die Sprache insgesamt – ist das erste Kennzeichen des menschlichen Wesens und wenn die Untersuchung dahin geht, den Philosophen vom Sophisten und diesen wiederum vom politischen Menschen zu unterscheiden, dann wird die Untersuchung des lógos hoch brisant: denn hier - und nur hier – wird der „Sophist“ entweder zu fassen sein oder er ist es niemals.
Wir beginnen daher die Untersuchung des lógos bei der Exposition der Problematik des lógos:
Die lógos-Untersuchung geschieht auf dem Hintergrund der zuvor durchgeführten Fundamentalbetrachtung der „megista gene“. Frage: Wie kann der lógos in Gemeinschaft kommen (oder darin sein) und zwar mit dem „me on“, mit dem Nicht-Seienden? Um das zu untersuchen muss der lógos selbst in seinem Wesen (und seiner Leistung) herausgestellt werden. Und zwar geht die Untersuchung darauf festzustellen, dass der lógos in sich selbst in einer Verknüpfung mit dem „me on“ steht – und nicht dann und wann etwa von außen in Gemeinschaft zum me on treten kann. Das „me on“, das wissen wir von der Fundamentalbetrachtung, ist durch die Struktur des „heteron“ in seiner Existenz aufgewiesen worden. Es ist die Frage, ob der lógos nur (Antisthenes) identifizierend – nur mit dem „on“ verknüpfbar ist; hier ist das „tauton“ bevorzugt. Oder gibt es neben der identifizierenden Funktion des lógos A=A – eine andere Gemeinschaft? Dreifach lässt sich die Untersuchung gliedern:
B) ERSTE STATION: Die onomatische koinonia zwischen ὄνομα und ῥῆμα als πλέγμα (583 sqq.)
Zu a) Aufweis der onomatischen und delotischen Grundstruktur des légein.
α ) Der Ausgang von den onomata als nächster Begegnisart des légein.
Das Onomatische ist die Rede als „sich Aussprechen“. Das Delotische ist die Rede als das „Aufdecken“. Heidegger geht zunächst phänomenal vom Onomatischen aus: Jede Rede ist ein „Gesprochenwerden“; das ist die redende Verlautbarung. Dass gesprochen wird, das ist eine grundlegende Erfahrung des menschlichen Miteinanders; diese Erfahrung gehört zum Alltag und ist so normal, dass sie in ihrer Alltäglichkeit nicht eigens beachtet werden muss. So gesehen ist die Sprache als ausgesprochene ein Vorkommnis, so seiend wie die Bäume im Wald, so seiend wie der Motor im Auto; ergo: ein Seiendes, ganz weit formal genommen. Wichtig bleibt, dass dieses Sich-Aussprechen schon von Hause aus ein „Miteinander-sprechen-über-etwas“ ist. Der Andere ist im Ausgesprochenen schon zugleich der Mit-Angesprochene und somit der Mit-Verstehende des „Über-etwas“. Die Verlautbarung: kein Geräusch, sondern „reden = reden miteinander über etwas“. Das ist der phänomenale Boden der Ausgesprochenheit. Abgewehrt wird dabei die sprach-theoretische Konstruktion der Sprache als bloßes Geräusch. Im Miteinander-sprechen-über-etwas begegnen so zunächst viele Worte – eine „Wortmannigfaltigkeit“ – also eine Gebildemannigfaltigkeit. So gibt es zunächst zwei Gebildemannigfaltigkeiten: a) die der „eide“, die überall mit da sind am Seienden (die megista gene) und b) die onomata, die Wortmannigfaltigkeiten. Und eine dritte wäre die Mannigfaltigkeit der Buchstaben/Laute: die grammata.
Hier besteht auch ein sachlicher Zusammenhang: In den Worten (grammata) werden die eide sichtbar durch die Gemeinschaft des Erkennens, des Aufdeckens und was sichtbar wird, das ist das noeton, das Erkannte. Die onomata sind eine Mannigfaltigkeit der grammata. Der Mensch als zoon logon echon, das Wesen, das die Sprache hat, steht in folgendem sachlichen Zusammenhang: Sache – Sachsichtbarkeit – Wort – Wortlaut /// Seiendes – Welt – Aufgeschlossenheit des Seienden – Rede – Kundgabe.[5] So zeigt sich der Seins-Bereich des Menschen überhaupt, der ein Seiender ist als „sprechend Seiender-in-einer-Welt“. Das Entdecken von Welt geschieht nicht nur dann und wann, so oder so oder könnte unterlassen werden, sondern das Sprechen ist der Grund-Beleg des seienden In-der-Welt-Seins: Welt eröffnet sich zugleich in der Sprache und als Sprache. Seiendes, das sprachlos ist, ist zugleich auch weltlos. Das ist dann eine These von Heidegger, die in „Sein und Zeit“ zur Ausführung kommt. Dieser ganze Zusammenhang von Sprache und Entdeckung einer Welt gehört wesentlich zusammen und es wäre an diesem Ort unzureichend, die Sprache als solche „isoliert“ zu betrachten, etwa als etwas Vorhandenes und als Vorkommnis in einer Welt wie es andere Vorkommnisse auch gibt. Dementgegen muss man an dieser Stelle sagen: Der Aufgang von Welt und das Sprechen als Sprache ist ein und derselbe Grund-Vorgang (Grund-Phänomen) des Mensch-Seins überhaupt und nicht nur irgendein menschliches Vorkommnis an einem Lebewesen.
β) Die koinonia der onomata im lógos.
αα) Das deloun als Kriterium der koinonia der onomata im lógos.
Welches Phänomen, so Heidegger (S. 588), konstituiert das Miteinandersein der Wörter, so, dass dieses Miteinander „sinnvoll“ ist, also eine „echte koinonia“ – eine echte Gemeinschaft vorliegt? Erst dann ist dieses echte koinonia gegeben, wenn „etwas offenbar“ gemacht – nämlich im und durch das Sprechen – wird.[6] Zwischen den Wörtern (onomata) ist eine echte koinonia gestiftet, wenn das Sprechen etwas „offenbar“ macht, wenn etwas als etwas „sichtbar“ wird, wenn die Wortfolge etwas sehen lässt, etwas zeigt. Das Kriterium nach Heidegger für den sinnvollen Zusammenhang der Wörter ist ihr Erschließungscharakter.[7] Die Wörter lassen etwas sehen, sie zeigen etwas her – und das, was gezeigt wird, das ist das Seiende[8] als Geoffenbartes, als solches sichtbar und sinnvoll. Nicht die Wortlaute sind als solche offenbarend, sondern das schon Vorhandene (Seiende) kann sinnvoll durch die Wörter sichtbar gemacht werden.
Vom „aufzeigbaren Seienden“ her wird die sinnvolle Rede gestiftet und ihre sinnvolle koinonia gewährleistet; das ist das Kriterium.
ββ) Die Grundunterscheidung der onomata überhaupt in onoma (im engeren Sinn) und rhema (Substantiv und Zeitwort)
Onoma besagte für Heidegger bisher jedes Wort der Sprache. Nun aber kommt es zur Unterscheidung von „Substantiv“ (onoma im engeren Sinn) und „Zeitwort“ (rema) – die onomata werden also nochmals differenziert. Wie ist dieser Unterschied überhaupt möglich? Wenn das Seiende durch die Sprache „gesagt“ wird, so geschieht das primär in Substantiven und Zeitwörten und insgesamt in den Wörtern überhaupt (onomata im weiteren Sinne). Nun wird im onoma, oder im Substantiv (engerer Sinn) aufgezeigt und aufgedeckt, worum es sich handelt (das Seiende, pragma) und im Zeitwort (rema) wird aufgezeigt und aufgedeckt, das Sich-handeln-um, als die Praxis. Beide Male wird durch die Wörter etwas offenbar, einmal das Seiende, dann die Praxis, das Handeln. Das pragma bei Platon ist dann später bei Aristoteles das hypokeimenon, woraus schließlich das Bleibende, das Substantiv wird.
γγ) Die Verflechtung von onmoma und rema als Wesensbedingung der koinonia der onomata im lógos.
Da, wo eine Verflechtung (symploke) von pragma (Seiendes, onoma) und praxis (Tun, Handeln, Zeitlich-sein, rema) besteht, da ist ein Sprechen sinnvoll und ein legein, ein Darlegen und Darbieten – eine sinnvolle Rede. Weder das bloße Aneinanderreihen von Zeitwörtern noch das von Substantiven ergibt eine sinnvolle Rede. Es kommt auf das Gegenwärtigmachen des Seienden oder Nicht-Seienden an. Das deloun ist nach Heidegger ein aufdeckendes Gegenwärtigen und nur da möglich und sinnvolle Rede stiftend, wo onomata und remata eine Mischung eingehen.[9] Entscheidend ist hier, dass das primäre Phänomen das „Offenbarmachen“ (von Seiendem) ist – das deloun – das vor onomata und remata schon irgendwie offenbar ist. Daher sind onomata und remata deloumata – offenbarmachende Wörter. Und von daher ist eine mögliche symploke gestiftet. Festzuhalten gilt es das primäre Phänomen: das deloun (das Aufzeigen) – das ist das Grundphänomen – das Offenbare – Geoffenbarte – zu Offenbarende.
Das Offenbar-machen, das Aufzeigen (von Seiendem, das deloun) gehört wesentlich zum Mensch-sein, zum Da-sein nach Heidegger, zum In-der-Welt-sein und hier liegt die Möglichkeit des Sprechens überhaupt begründet. Der Mensch ist ein Offenbar-Machender und dieses „Können“ konstiuiert sein gesamtes Sein, dadurch Sprache möglich wird. Sprache wird so mit dem Sein des Menschen in einem Grundphänomen – dem deloun – verständlich.
Ein sinnvoller lógos besteht daher unbedingt aus onomata und remata und ihrer Verflechtung und nur aufgrund des deloun. Ein echter lógos bedeutet „Verflechtung von onoma und rema“.
So kann die „Erste Station“ zusammengefasst werden: Hier wird die Rede als gesprochener Ausdruck „in der Welt“ vorfindlich. Ergo: Eine Mannigfaltigkeit von Wörtern. Dieser Mannigfaltigkeit liegt aber das Grundphänomen des „deloun“ (Offenbar machen) zu Grunde. So sind die Wörter nicht nur Wörter, sondern sie lassen etwas sehen, machen etwas offenbar, zeigen etwas, sie erschließen etwas – die onomata sind daher im Grunde deloumata. Der Erschließungscharakter gabelt sich in: pragma (onoma) und praxis (rema). Beide sind deloumata. Das Sprechen, das Sagen (das legein) ist im Grunde in sich selbst ein deloun – ein Offenbar machen (das Seiende in der Welt). Das bloße (Be-)-Nennen einer Sache erschließt diese noch nicht – der lógos als deloun aber ist sach-erschließend und daher sinnvoll und gründet im Sein des Mensch-Seins.
Die erste koinonia - die von onomata und remata oder die „onomatische koinonia“ ist damit aufgezeigt. Es folgen noch drei weitere Gemeinschaften und zunächst die „intentionale“ in der 2. Station.[10]
C) 2. STATION: Aufweis der logischen und intentionalen koinonia des logos (597 sqq.) – das legomenon qua legomenon - das Gesagte als Gesagtes – als Offenbarmachendes (= qua deloumenon).
α) lógos ist immer: lógos tinos
Was ist das überhaupt, was in einem Gesagten gesagt ist? Was ist da das Aufgedeckte in einem Angesprochenen, in einem „Gesagten“ (legomenon)? Nun ist jedes Ansprechen von Angesprochenem immer lógos tinos: Ansprechen „von etwas“. Was heißt das? Das heißt, dass ausnahmslos jede Rede ihrem eigensten Sinne nach ein Aufdecken von etwas ist (Intentionalität).[11] Damit wird eine neue Gemeinschaft (koinonia) erschlossen: die von Seiendem und lógos – oder die von ón und lógos.
ββ) Das ti als tinos des legein: 1. Worüber (peri ou) – 2. Als-was (hotou) und 3. Wovon
Das Aufzeigen (Offenbar machen, das deloun) ist gekennzeichnet durch die Verflechtung von onomata und remata im lógos als légein. So zeigt sich die Verfasstheit des Geoffenbarten, des Aufgezeigten, des „Etwas“ (ti): pragma (Seiendes) im Wie der praxis.[12] Das Angesprochene, Ausgesprochene (legomenon) ist daher: etwas als etwas. Jedem lógos ist „etwas als etwas“ vorgegeben – worüber sich der lógos ausspricht: das ist das peri ou – das Worüber (1.). Zunächst ist vorgegeben eine „unabgehobene Einheit“ eines Seienden – z.B. der knarrende Wagen auf der Straße.[13] So höre ich zunächst nicht irgendwelche isolierten Geräusche, sondern ich höre diesen „Wagen“, ich höre ein vorgegebenes Ganzes als solches – und das ist das „Worüber“ – das peri ou – das Worüber des Sprechens.
An diesem peri ou (vorgegebenes Ganzes) wird nun 2. etwas abgehoben: das hotou, das Als-was. Das so Abgehobene wird jetzt verstanden „als etwas“, was das peri ou näher bestimmt. Im Beispiel: der knarrende Wagen wird vom Knarren (das Abgehobene) her und so als „knarrender Wagen“ bestimmt. 1. Gibt es also ein unabgehobenes Ganzes (peri ou, der Wagen) - 2. das abgehobene Wovon (das hotou, das thematisch Herausgehobene, das Subjekt des Satzes) – das, wovon eigentlich die Rede ist. Das Knarren wird dem Wagten eigens zugesprochen, es wird von ihm abgehoben. So vollzieht sich die Hebung des Unabgehobenen.
Erst durch diese „Hebung“ einer Bestimmung wird zugleich auch das unabgehobene Ganze näher bestimmt – durch die Abhebung des Als-was wird erst das Wovon deutlich und so zur Hebung gebracht. Es geht nicht zunächst vom Subjekt zum Prädikat, sondern umgekehrt vom vorgegebenen Ganzen zum Prädikat und zugleich zur Hebung des Subjekts: ein Vorgegebenes wird zur Präsenz gebracht – „etwas als etwas“.
Zusammenfassend: 1. Gibt es eine koinonia zwischen onoma und rema – die onomatische koinonia der Ausdrücklichkeit. Dann 2.: die koinonia zwischen on und lógos – lógos ist immer „lógos tinos“. Und 3. ist jetzt festzuhalten, das näher betrachtet das ti des tinos sich als „Etwas als Etwas“ konstituiert. Diese 3. koinonia des „Etwas als Etwas“ nennt Heidegger die spezifisch „logische“, die 2. koinonia nennt er die „intentionale“ und die 1. koinonia die „onomatische“.
Es folgt abschließend die Charakteristik des lógos als „poios“, die „Dritte Station“ oder die „delotische koinonia“.
D) 3. STATION: Aufweis der delotischen koinonia des logos.
α) Der täuschende lógos: Der lógos tinos als Grundlage.
Jeder lógos, so Heidegger, deckt etwas als etwas auf, lässt etwas sehen, macht etwas offenbar und immer ist jeder lógos oder jedes légein ein légein ti: ein Sagen über etwas. Wird nun der lógos modifiziert, etwa im Sinne einer täuschenden Rede, so verschwindet nicht einfach der lógos tinos, das Etwas als Etwas. Der falsche lógos oder die täuschende Rede zeigt sich als: verbergend – verstellend – davorstellend (von etwas vor etwas) – nicht sehend lassend. Auch der täuschende lógos lässt etwas als etwas sehen und zeigt sich als légein ti. Zwei Punkte sind festzuhalten: Etwas als etwas wird im Sprechen (légein) aufgedeckt – dieses Aufdecken kann 2. aber auch ein täuschendes Aufdecken sein, ein Davorstellen. Es zeigt dann das Seiende als verstellt, verborgen. Diese täuschende Rede gibt das Seiende nicht an ihm selbst; sie, die Täuschung, gibt grundsätzlich das Seiende (jeder lógos ist légein ti) - aber verstellt. Die „Täuschung“ ist also nur dadurch überhaupt möglich, weil jeder lógos als solcher offenbarmachend ist und daher lógos tinos ist. Das falsche Reden, das Täuschen, gibt sich als etwas, was es in Wirklichkeit nicht ist: so wie falsches Gold sich zeigt wie echtes aber es in Wirklichkeit nicht ist.
Wichtig ist: Jeder lógos kann etwas als es selbst zeigen (dann ist er wahrer lógos) – oder das légein kann das Seiende verstellt zeigen (dann ist er täuschender lógos). Der täuschende lógos macht aber den Anspruch auf Wahrheit. Das pseudos, das Täuschen, gründet in der Möglichkeit der Intentionalität des lógos. Etwas als etwas kann sich auch verstellt zeigen – es muss sich nicht zeigen als das, was es seiner Verfassung nach an ihm selbst ist. D.h.: Jeder lógos, jede Rede, ist in einem „Wie“ – so oder so – aufdeckend (das Seiende an ihm selbst) – oder verstellend (das Seiende verdeckend). Daher ist jeder lógos poios – ein „Wie“. Wenn jeder lógos offenbar machend ist – deloun – so ist er so oder so zeigend oder offenbarend: wahr oder falsch aber immer irgendwie. Ein lógos von „nichts“ ist unmöglich.
β) Die 4. koinonia im lógos: lógos alethes und lógos pseudes.
In der Betrachtung über die obersten Stämme (die megista gene) hat sich gezeigt, dass das on in einer koinonia mit dem tauton bzw. mit dem heteron steht – und zwar durchgängig. Jedes on ist es selbst (tauton) und ist zugleich nicht das andere (heteron). Das on partizipiert notwendig mit tauton und heteron. Das legomenon, das Gesagte (das gesagt werdende), kann ebenfalls als on, als ti, gefasst werden. Und so steht der lógos ebenfalls in Verknüpfung oder Gemeinschaft mit dem tauton und dem heteron. Wenn das on, das ti, als legomenon gefasst wird, dann trifft all das auf den lógos zu, was auf das on zutrifft. Der Sophist entgegnete früher, dass nicht ausgewiesen sei, dass es eine täuschende Rede gibt, dass das Nicht-Seiende, das me on, auch auf den lógos und also auch auf die Rede zutrifft. Weil aber jeder lógos lógos tinos ist – Rede über etwas als etwas – so ist jeder lógos zugleich Rede über das ti, Rede über das (zu offenbarende) on. Und hier ist die Bruchstelle, an dem der Sophist fällt: Das Gesagte ist auch ein ti, das Gesagte ist auch ein on und so steht das legomenon in Gemeinschaft mit tauton und heteron.
Wenn nun das tauton mit dem on offenbar ist, dann ist das on als legomenon an ihm selbst da und folglich an ihm selbst aufgedeckt und so ist dieses Aufdecken „wahr“: ein aletheuein – der lógos ist wahr. Das on als legomenon kann aber auch in Gemeinschaft mit dem heteron stehen (und steht notwendig mit ihm in koinonia). Das on als legomenon ist dann ein Anderes als es selbst und ist ein Verdecken, ein Verstellen als verstellendes Offenbaren. Das heteron gewährleistet hier den lógos pseudes, die täuschende Rede. Was in der dialektischen Fundamentalbetrachtung über die megista gene ausgemacht wurde, das gilt auch für den lógos als on: die Rede, das Gesagte, das legomenon als ein on steht in Gemeinschaft mit dem tauton und zugleich mit dem heteron. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit des wahren und falschen lógos. Die koinonia mit dem tauton und dem heteron ermöglicht entweder den wahren oder den falschen lógos; diese 4. koinonia bezeichnet Heidegger als „delotische koinonia“ – als offenbarmachende koinonia in Bezug auf das poios, auf das Wie als „wahr“ oder „falsch“. Die delotische koinonia legt den Schwerpunkt auf die Anwesenheit des tauton oder heteron im legomenon und zeigt so den wahren oder falschen lógos. Das Etwas-als-Etwas ist 1. ein fundamentaler Charakter des lógos: jeder lógos ist immer légein ti – und weil jede Rede immer offenbarmachende Rede ist (über ein Seiendes), kann 2. das Vorgegebene als es selbst (tauton, wahr) oder nicht als es selbst (heteron, falsch) gezeigt werden.
E) ZUSAMMENFASSUNG:
Der lógos als legomenon, als Gesagtes, ist in einer möglichen koinonia mit dem tauton und dem heteron. Die Gemeinschaft mit dem heteron besagt: täuschende Rede, Täuschung, Verstellung. Damit ist der lógos pseudes in seiner Konstitution aufgedeckt. D.h. jetzt: die den „wahren“ und „falschen“ lógos offenbarende Rede (deloun) ist immer légein ti, also ein Sprechen über etwas als etwas und weil das Gesagte als legomenon ein ti, ein on ist, ist es in Anwesenheit mit dem tauton als es selbst identifiziert (wahrer lógos) – oder es ist ein Anderes als es selbst und mit dem heteron in koinonia (täuschender lógos). Somit zeigt sich die Verbundenheit des lógos mit dem heteron als Konstitutionsprinzip der täuschenden Rede: Der Sophist als Trug-Redner ist in seiner Existenz aufgedeckt. Im lógos selbst liegt die Möglichkeit, dass er auch ein verstellender, ein täuschender sein kann. Der Sophist in seiner Existenz ist aufgewiesen.
Literaturverzeichnis:
Heidegger, Martin: Platon. Sophistes. HGA 19. Frankfurt a. Main: Klostermann, 1992.
[1] HGA 19, 574.
[2] Vgl. HGA 19, 581 sqq
[3] A.a.O., 606.
[4] A.a.O., 581.
[5] Vgl. HGA 19, 585.
[6] HGA 19, 588.
[7] HGA 19, 589.
[8] A.a.O., 589.
[9] HGA 19, 593.
[10] A.a.O., 597 sqq.
[11] A.a.O., 598.
[12] A.a.O., 599.
[13] A.a.O., 599.
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ΑΡΙΣΤΟΤΕΛΗΣ
Ethica Nicomachea A 1-4
Thomas Buchhas
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Inhaltsverzeichnis
Ι. Abschnitt: Geläufige Interpretation – Eth. Nic. 1 - 4
Erstes Buch – 1. Kapitel 1094 a 1 - 1094 b 10
Erstes Buch – 2. Kapitel 1094 b 11 - 1095 b 11
Erstes Buch – 3. Kapitel 1095 b 14 - 1096 a 10
Erstes Buch – 4. Kapitel 1096 a 11 - 1096 b 14
ΙΙ. Abschnitt: Hermeneutische Interpretation – Eth.Nic. 1 – 4
Das Dasein des Menschen als ἐνέργεια: das ἀγαθόν
α) Ausdrücklichkeit des ἀγαθόν als ἀγαθόν
β) Sich zeigen des ἀνθρώπινον ἀγαθόν
γ) Grundbestimmungen des ἀγαθόν
δ) Die βίοι als τέλη δι’αὑτἀ
Literaturverzeichnis
I. Abschnitt: Geläufige Interpretation – Eth.Nic. 1-4
Überblick – geläufig: Erstes Buch / 1. Kapitel : 1094a1 – 1094b10
Im 1. Kapitel des I. Buches der Eth. Nic. stellt Aristoteles das ἀγαθόν (bonum) vor und zwar in der Hinsicht, dass das ἀγαθόν oberstes Ziel der menschlichen Tätigkeiten ist. Wonach alles strebt (ὄρεξις), das ist das „Gute“. Die Handlungen (des Menschen) werden vom Stagiriten als ein „Streben“ angesehen. Mannigfaltig sind die Handlungen und auch vielfältig die Ziele: Es lässt sich eine „Rangordnung“ insofern ausmachen als wir eine Unterordnung erkennen können: die Sattlerei dient der Reitkunst, die Reitkunst dient der Kriegskunst, diese dient der Strategik, die Strategik dient letztlich, können wir festhalten, den menschlichen Angelegenheiten selbst; diese zeigen in ein letztes „Worum-Willen“. Und wenn es „leitende Künste“ gibt, dann sind auch die Ziele derselben vorzüglicher als die Mittel zum Zweck. Nun steht es für den Philosophen außer Zweifel, dass es auch ein Ziel des Handelns geben muss, „…das wir um seiner selbst willen wollen und das andere um seinetwillen;“[1]. Hier spricht sich eine „Autonomie“ aus, die Unabhängigkeit von anderen Zielen intendiert. Dieses „oberste Ziel“ des Handelns wird Aristoteles im II. Kapitel als εὐδαιμονία einführen, sodass das Streben des Menschen einen festen Halt an einem obersten Ziel findet und nicht ins Unbegrenzte – μὴ εἰς ἄπειρον ἰέναι – laufe. Dieses oberste Ziel ist zugleich ein Superlativ: τὸ ἄριστον. Es stellt sich im 1. Kapitel sogleich die Frage, welche Wissenschaft über das oberste Ziel des Handelns verfügen soll. Aristoteles legt fest, dass das die „Staatskunst“[2] sei; sie bestimmt nämlich, was alles in Staaten der Fall sein darf und was nicht. Ethische Angelegenheiten sind nach 1094a11sq. „politische Angelegenheiten“, sie sind Teil der Staatskunst. Entgegen einer heutigentags weit verbreiteten Vorstellung von „Glückseligkeit“, nämlich einer durch und durch privaten, wird hier die Eingeflochtenheit derselben in das „Allgemeinwesen“ vorangetrieben. Gleichzeitig mit dem Ziel der Abhandlung, mit der Sache, werden auch „methodische Überlegungen“ durchgeführt: Je nach Sachbereich (in Anlehnung an Husserl könnte man von regionalen Ontologien sprechen) wird die „Präzision“ der Ausführungen schwanken. Die Sache selbst (Glückseligkeit, das Gerechte, etc.) zeigt von sich her eine weitläufige Unbeständigkeit und wird nicht so festzunehmen sein wie eine mathematische Aufgabe. Daher ist es ratsam, „…in groben Umrissen das Richtige anzudeuten“[3]. Kurz: Die Sache der „Ethik“ verlangt eine ihr angemessene Zugänglichkeit; die „Natur des Gegenstandes“ (1094b25) ist maßgebend und nicht eine schon wie immer geartete Methode darf an dieselbe achtlos herangetragen werden. Kapitel 1 läuft mit dem Hinweis auf die „praktische Bedeutung“ der folgenden Untersuchungen aus. Die „Praxis des Lebens“ bildet den maßgebenden Hintergrund der Untersuchungen [wie sich auch abschließend aus unserer hermeneutischen Darlegung ergeben wird].
Überblick – geläufig: Erstes Buch / 2. Kapitel: 1094b11 – 1095b11
Die εὐδαιμονία (1095a17) ist nun „die Sache“ der politischen Wissenschaft. Über das „Was“ derselben herrscht aber Uneinigkeit, sowohl unter den Vielen als auch unter den Weisen. Aristoteles zeigt hier schon an, dass er von den vielen Meinungen immer wieder ausgeht, dass sie ihm wichtig sind, dass er sie befragt und in seine Überlegungen einbezieht. In der Diktion von „Sein und Zeit“ (EA, S. 43 f.)[4]: die durchschnittliche Alltäglichkeit findet hier Beachtung. Auf die „verbreitetsten“ Ansichten über die Glückseligkeit rekurriert der Stagirit und diese sind auch – mallon kai hêtton – begründet; so scheint es wenigstens. Jetzt gibt es auch Wege, die von Prinzipien ausgehen, man könnte auch sagen: Man fängt mit allerlei Spekulationen an, erdenkt sich Prinzipien und „erste Dinge“ und folgert aus ihnen und kommt so schon „vorbelastet“ zu den Dingen (wenn überhaupt). Dann aber gibt es den umgekehrten Weg: Man versucht sich an den Sachen selbst und gelangt so – wenn die Untersuchung glückt – zu Prinzipien und ersten Gründen. Für Aristoteles steht fest: Mit dem „Bekannten“ muss begonnen werden und zwar in doppelter Hinsicht: 1. Etwas ist „für mich“ bekannt – besser gesagt: ich bin mit der Sache selbst bekannt, sie ist mir geläufig, ich kenne mich in ihr aus. Am Beispiel der guten Lebensführung: Ich lebe rechtschaffen und bemühe mich um eine gute Lebensführung, bin mit ihr bekannt, diese Lebensführung ist sozusagen eine „Tatsache“, ein „Dass“. 2. Wenn es ein „Bekanntes an sich“ gibt, so heißt das: ich selbst muss mit ihm in der genannten 1. Hinsicht nicht bekannt sein, ich weiß aber um diese Prinzipien; entweder durch eine „Rede“ oder durch eigenes „Nachdenken“. Einmal geht es um „praktisches Wissen“, dann um reine „Theorie“. Die Frage, die sich stellt, ist: Wie komme ich zu den Prinzipien z.B. über die Glückseligkeit? Antwort: Wenn ich mit den Prinzipien bereits bekannt bin, dieselben in »Fleisch und Blut« übergegangen sind, ein „ὅτι“ sind, dann zeigt sich die „Warum-Frage“ als bedeutungslos. Wer aber weder belehrbar ist, sich also „nichts merkt“, oder wer des Nachdenkens ledig ist und wer sich zudem auch nicht durch ein ὅτι ausweist, der ist: ein unbrauchbarer Mann.
Überblick – geläufig: Erstes Buch / 3. Kapitel: 1095b14 – 1096a10
An den „Lebensformen“[5] (βίοι) zeigt sich in erster Linie das »Gute« und die »Glückseligkeit«:
Die Vielen wählen das Leben in Genuss (a), sie bevorzugen die ἡδονή: essen, trinken und lieben; mehr braucht es nicht; an Vorbildern wie z.B. Sardanapal fehlt es nicht. So zu leben kommt dem βίος ὰπολαυστικός gleich, reicht aber als zureichende Bestimmung des ἀγαθόν, bzw. der εὐδαιμονία nicht zu. Die τιμή (b) ist erklärtes Ziel des öffentlichen, politischen Lebens. Der βίος πολιτικός könnte eine Vorzeichnung der Glückseligkeit verbürgen. Aristoteles verwirft aber diese Möglichkeit mit dem Hinweis, dass die Ehre jemandem zukomme und nicht dem Menschen eigen sei. Geehrt und gelobt wird man auf Grund der eigenen ἀρετή und die Tüchtigkeit könnte das letzte Ziel des βίος πολιτικός abgeben. Aber auch die ἀρετή verbürgt keine Zuverlässigkeit: Man kann sein eigenes Leben auch im Besitz derselben verschlafen, untätig sein oder Missgeschicke erleiden – einfach „Pech“ haben. Glückselig kann man sich ob dieser Obsessionen nicht nennen. Über den βίος θεωρητικός (c) schweigt sich der Stagirit zunächst aus; diese Lebensform firmiert dann später bei den dianoetischen Tugenden an höchster Position. Letztlich verbürgt auch der „Reichtum“ keine Verlässlichkeit in Ansehung der Frage, worin eigentlich das „Gute“ und die „Glückseligkeit“ zu suchen sind, worin sie der „Sache nach“ - denn darnach ist in der τὶ εστι-Frage gefragt (1095a20) - zu Begriff zu bringen sind.
Überblick – geläufig: Erstes Buch / 4. Kapitel: 1096a11 – 1096b14
Die „Platonkritik“ im 4. Kapitel stellt 5 Argumente gegen die Platonische Lehre[6] vor:
Wenn es eine kategoriale Reihung gibt, in der das „Gute“ selbst schon vorkommt (1. Argument) , z.B. die aristotelische Kategorienreihung: οὐσία, ποσόν, ποιόν, πρός τι, ποῦ, usw., dann ist für Aristoteles die οὐσία (vgl. Cat. 5) als erste Kategorie „früher“ (πρότερον) als die ihr zukommenden akzidentellen Kategorien, z.B. die Beschaffenheit eines Seienden (ποιόν), die in diesem Sinne „später“ (ὔστερον) sein muss, also bloß ein „Zusatz zum Seienden“ (1096a20) ist. Folglich gibt es keine „umfassende“ Idee des Guten, die alle Kategorien umspannt und zudem selbst schon in den Kategorien vorkommt; freilich, wenn man die Rangordnung berücksichtigt. Platon hat folglich die „Reihung“ in Bezug auf die „Idee des Guten“ selbst nicht beachtet. Es gibt nach Aristoteles eine „kategoriale Vielfalt“ des Guten, so (2. Argument) wie es auch die „mannigfaltige Rede vom Seienden“ gibt – τὸ ὂν λέγεται πολλαχῶς (Met. Z., 1028a10, Frede/Patzig) und jeweils ist das ὂν anders in Verwendung und doch in Bezug auf eines und eine einzige Natur (πρὸς ἕν) im Sinne der ἀναλογία. So verhält es sich auch mit dem „Guten“; ein universal Gutes anzunehmen ist überflüssig, denn die nicht reduzierbaren Kategorien enthalten das Gute je auf verschiedene Weise; die Annahme des einen Universalen aber widerspricht der Vielfältigkeit der kategorialen Bestimmtheit. Gibt es eine „Idee des Guten“, so muss es auch nur eine Wissenschaft davon geben (3. Argument). Nun gibt es aber mannigfaltige Wissenschaften, die auf je verschiedene Weise vom „Guten“ implizite handeln. Die Rede vom An-sich-sein, also die Hypostasierung (4. Argument), ist für Aristoteles sinnlos. Durch den Zusatz, dass ein Seiendes „an sich“ sei, wird weiters nichts ausgesagt, was nicht zuvor schon zureichend bestimmt wäre. Das 5. Argument von der „Ewigkeit“ ist bestenfalls eine Leerformel, da die „Idee des Guten“ ewig und unveränderlich ist, trägt auch dies nichts zur realen Bestimmtheit eines Guten bei. „Auch wird das Gute an sich nicht darum eher gut sein, weil es ewig ist, wie auch das Dauerhafte nicht weißer ist als das nur einen Tag Bestehende“.[7] Aristoteles versucht die „Idee des Guten“ mit seinen fünf Argumenten aus den Angeln zu heben. Offen bleibt, ob damit schon die Intention der „Idee des Guten“ zureichend gefasst wird, zumal dieselbe als bloßer Allgemeinbegriff angesetzt wird.
II. Abschnitt: Hermeneutische[8] Interpretation – Eth.Nic. 1-4
α) Das Dasein des Menschen als ἐνέργεια: das ἀγαθόν
Ἐνέργεια wird in der Regel mit actus, actualitas: Tätigkeit oder Wirklichkeit übersetzt. Das Verbum zu ἐνέργεια ist ἐνέργειν: wirken, tätig sein – in actu. Heidegger erkennt in der ἐνέργεια den „fundamentalsten Seinscharakter“ der Ontologie des Aristoteles[9] und übersetzt ἔργον in Bezug auf das menschliche Sein mit eigentlicher Verrichtung oder Besorgen. In der folgenden Interpretation wird es, folgen wir der Überschrift des § 10, um das Im-Werke-sein des sorgenden Daseins-Vollzuges, um den a-theoretischen Weltumgang des Menschen gehen. Auf dem Hintergrund dieser fundamentalontologischen Folie wird Heidegger die ersten vier Kapitel von Eth. Nic. interpretieren. Ἐνέργεια übersetzt Heidegger, wie oben bereits angeführt, mit »Im-Werke-Sein«[10] und meint mit dem „Sein“ hier die Existenz des Daseins, i.e. das Hinausstehen in die zwiefach gedoppelte Seinserschlossenheit.[11] Das zweite Kapitel in GA 18 ist überschrieben: „Die aristotelische Bestimmung des Daseins des Menschen als ζωὴ πρακτική im Sinne einer ψυχῆς ἐνέργεια“.[12] Heidegger ist dem Sein des Menschen auf der Spur, jenes Sein, das später in „Sein und Zeit“ im §4 als Existenz gefasst wird; nicht im Sinne von existentia, also nicht in der scholastischen Bedeutung von wirklich-sein, vorhanden-sein, sondern Existenz im Sinne von: hinaus-stehen in die Offenheit oder Erschlossenheit von Sein. Was ist also die typische Wirklichkeit, das Wirken, die prägnante Tätigkeit oder Bewegung, die eigentliche Verrichtung – kurz: das ἔργον des menschlichen Seins? Anhand des ἔργον lässt sich weiter die Seinsweise des Menschen bestimmen. Bestimmen heißt jederzeit: begrenzen; Bestimmung ist eigentlich Begrenzung – πέρας. Das πέρας als „Begrenztheit“ zeigt dahin, wie die Griechen das „Sein“ des Seienden verstanden haben: als Gegenwärtigkeit eines Seienden in seiner Fertigkeit“.[13] Gegenwärtigkeit und Fertigkeit zeichnen den Seinscharakter des Seienden aus, dieser ist der [unhinterfragte] Horizont für die Seinsauslegung bei den Griechen, so jedenfalls Heidegger. Wird nun näherhin nicht das Sein in unbestimmter Weise angesetzt, sondern das Sein eines bestimmten Seienden, des Menschen, eingegrenzt, dann zeigt sich durch dieses πέρας der Seinscharakter dieses Seienden, den Heidegger als ἀγαθόν fasst. Von diesem ἀγαθόν führt die Eingrenzung weiter zur κίνησις; diese zeigt sich als τέλος und dieses als εὐδαιμονία.[14] Überall handelt es sich hier um Seinsbestimmungen des menschlichen Seienden, des „Daseins“, wie es auch in „Sein und Zeit“ später heißen wird. Die Überschrift des §10: Das Dasein des Menschen als ἐνέργεια: das ἀγαθόν – lässt sich prima vista auslegen: Das Sein des Menschen als „Besorgen“, als „besorgendes In-der-Welt-sein“, als „besorgender Welt-Umgang“ und, was speziell mit ἀγαθόν hier gemeint ist, das soll die folgende Analyse zum Vorschein bringen. Unsere Interpretation von Eth. Nic. 1-4 greift die Bestimmung Heideggers im § 10 (GA 18) auf: „Das ἀγαθόν ist eine Bestimmung des Seins des Menschen in der Welt“.[15] Den Titel ἀγαθόν, den man üblicherweise mit „gut“ und substantiviert: τὸ ἀγαθόν / das Gute (das Gut)[16] übersetzt, lassen wir absichtlich unübersetzt. Dass das ἀγαθόν eine Seinsbestimmung des Menschen ist bedeutet: Weder das leblose Seiende (in der Diktion Heideggers: weder Zuhandenes noch Vorhandenes (z.B. Hammer oder Stein) noch das belebte Seiende (Leben: Tier und Pflanze) noch das Bestand habende Seiende (z.B. geometrische Relationen, mathematische Verhältnisse) – sind von der Bestimmung des ἀγαθόν eingenommen. Der Mensch wird weiters in der Überschrift (§ 10) als „Mensch in der Welt“ gefasst. Damit kommt die Grundbestimmung des Daseins als „In-der-Welt-sein“ (SuZ, EA, S. 52 sqq.) zur Geltung. Dieses „In-der-Welt-sein“ interpretiert Heidegger bekanntlich als „vertraut sein mit…“, als „wohnen bei…“, „sich aufhalten bei…dem und dem, mit dem es eine bestimmte Bewandtnis hat“.[17] Durch die Interpretation des ἀγαθόν versucht Heidegger zur Seinsbestimmung des Menschen vorzudringen. Der Meßkirchner interpretiert hierzu das 1. Buch der Eth.Nic. und zwar methodisch in folgender Weise:
α) Ausdrücklichkeit des ἀγαθόν als ἀγαθόν
β) Sich zeigen des ἀνθρώπινον ἀγαθόν
γ) Grundbestimmungen des ἀγαθόν
δ) Seinsmöglichkeit des Menschen in Hinsicht auf das ἀγαθόν[18]
Für die Analyse unter Berücksichtigung der Hinsichten α – δ ist zunächst eine Erinnerung der Seinsbestimmungen des Menschen nötig:
zu α) Ausdrücklichkeit des ἀγαθόν als ἀγαθόν
Wo wird bei Aristoteles ausdrücklich vom ἀγαθόν gehandelt, nämlich dem ἀγαθόν als ἀγαθόν? Das als zeigt die Hinsicht an, woraufhin die Sache, das Thema angeschnitten, woraufhin es ausgelegt wird (vgl. SuZ, EA, S. 148 sqq. – insbesondere §31: Verstehen und Auslegung – hier: Vorhabe/Vorsicht/Vorgriff). Gefragt ist daher nicht nach dem und dem „Guten“, nach guten Werken oder guten Beispielen – kurz: nach dem „seiend Guten“. Gefragt ist nach dem, was das ἀγαθόν in seinem „Wesen“ bestimmt, was es wesentlich ermöglicht, die Seinsmöglichkeit des ἀγαθόν selbst. Heidegger zitiert hierzu Eth.Nic. 1094a1:
„Πᾶσα τέχνη καὶ πᾶσα μέθοδος, ὁμοίως δὲ πρᾶξίς τε καὶ προαίρεσις ἀγαθοῦ τινος ἐφίεσθαι
δοκεῖ“[20]
Irgendein „Gut“ zu erstreben[21] - Heidegger übersetzt hier: hinter einem Guten hinterher sein (a.a.O.) – das ist das Geleit sowohl von τέχνη, μέθοδος, πρᾶξίς und προαίρεσις, i.e., dass für Heidegger die angeführten Bestimmungen (τέχνη, μέθοδος, πρᾶξίς und προαίρεσις) allesamt Weisen des Besorgens, d.h. Weisen des Sich-auskennens, Weisen des Daseins selbst sind. „Sieht“ man diese Weisen, dann zeigt sich an und mit ihnen das ἀγαθόν, hinter dem sie her sind, welches Hinterher-sein zu ihnen selbst gehört. Wenn das Dasein stets etwas „besorgt“ – im engeren Sinne das Verstehen von Sein, die Erschlossenheit von Sein, das Seinsverständnis und weiterhin „auslegt“, was es schon je verstanden hat (vgl. SuZ - § 32) - dann gehört zu diesem „Welt-Umgang“ ein bestimmte „Sicht“, die Heidegger als „Umsicht“ bezeichnet.[22] Das Dasein geht sorgend in der Welt auf, d.h. es „kennt sich aus“ bei diesem Welt-Umgang, nicht, dass es dieses Sein theoretisch durchleuchtet hätte, sondern dieses Sich-auskennen weiß schon woran es mit ihm selbst ist; es benötigt hierzu keine theoretische Durchsicht und keine philosophische Reflexion. Dieses Sich-auskennen im Besorgen nennt Heidegger ohne weiteres τέχνη.[23] In der τέχνη wird das ἀγαθόν ausdrücklich sichtbar. Damit ist die erste Frage (a), die nach der Ausdrücklichkeit des ἀγαθόν als ἀγαθόν, beantwortet: In der τέχνη zeigt sich die Ausdrücklichkeit des ἀγαθόν. Das ἀγαθόν zeigt sich weiters „relativ“ auf τέχνη, μέθοδος, πρᾶξίς und προαίρεσις.
zu β) Sich zeigen des ἀνθρώπινον ἀγαθόν
Das spezifisch menschliche Gut (das ἀγαθόν des Seins des Menschen) rekurriert auf die Bestimmung des Menschen als eines ζῶον πολιτικόν. Der Mensch ist nicht zunächst ein isoliertes Individuum, ein bezugsloses Subjekt, das sich temporär anschickt, Bezüge zur Um- und Mitwelt aufzunehmen, sondern von Hause aus ist der Mensch ein ζῶον πολιτικόν, ein Miteinander-sein. Worin sich das Dasein hält in seinem Sorgens-Aufgang (nicht ontisch pejorativ gemeint!) in der Welt, worin es sich vor-theoretisch schon auskennt, das nennt Heidegger die „Auskenntnis“. Worin sich das Dasein „schon“ (d.h. vor-theoretisch) auskennt als ζῶον πολιτικόν, das ist die πολιτική[24] (die Auskenntnis im Miteinander-sein). Das spezifisch menschliche Sein ist durch diese πολιτική ausgezeichnet. Heidegger konstatiert nun, dass wir nur etwas über das Sein des Menschen ausmachen können, wenn wir seinen konkreten Umgang in diesem „Miteinandersein“ berücksichtigen. Der Mensch „hält“ sich als ζῶον πολιτικόν immer schon in der πολιτική, diese gehört zu seinem In-der-Welt-sein und dieses Sich-halten, dieser ganz typische „Aufenthalt“, der nur dem menschlichen Sein eignet, dieser Aufenthalt als Sichhalten in dieser Weise, das nennt Heidegger τὸ ἦθος. Wird ἦθος mit Gewohnheit übersetzt, dann trifft das in etwa den Heidegger´schen Sinn des Wortes: wohnen als Aufenthalt; also nicht das, was man üblicherweise als Gewöhnung an… usw. interpretiert, sondern das Wohnen-in-der-Welt als „In-der-Welt-sein“. Seiendes von nicht-daseinsmäßigem Charakter kann daher niemals „wohnen“ in einer Welt und daher nicht dem ἦθος vereignet sein. „Politik“ wäre demnach - weitab von den gängigen Meinungen über dieselbe – „die Auskenntnis über das Sein des Menschen“. Sie wäre in gewissem Sinne Ontologie des Menschen, im Sinne von „SuZ“ Existenzial-Ontologie. Das Verständnis der „Ethik“ als sogenannter Sittenlehre, gehörig zur praktischen Philosophie im Gegenhalt zu den theoretischen Disziplinen derselben, greift zu kurz: ἦθος zeigt in den Welt-Aufenthalt des Menschen, in sein Sein als In-der-Welt-sein, auf sein „Sich-halten-in-einer-Welt“. Wenn dieses In-der-Welt-sein aber zugleich dadurch ausgezeichnet ist, dass das Sein des Menschen als Existenz zugleich mit einbegreift das Verstehen des Seins alles nicht-daseinmäßigen Seienden (die horizontale Seins-Erschlossenheit, vgl. ebenfalls F.W.v. Herrmann, „Subjekt und Dasein“), dann besagt ἦθος weit mehr als nur Anthropologie: ἦθος meint dann den Ausgriff auf das Verstehen von Sein im Ganzen und dieses universale Seinsverständnis hat schon jede „nur“ anthropologisch-philosophische Analyse unterlaufen.[25] Das ἀνθρώπινον ἀγαθόν, das spezifisch menschliche Gut, wird sich in einer ganz ausgezeichneten Weise des In-der-Welt-seins zeigen, die, so Heidegger, bei Aristoteles als πολιτική bezeichnet wird: als Miteinander-sein-in-einer-Welt – oder: das Dasein als Miteinander-sein.[26]
zu γ) Grundbestimmungen des ἀγαθόν
„ἀγαθόν ist τέλος“[27] - gefragt ist danach, inwiefern das ἀγαθόν τέλειον ist: das Fertigsein, das Zu-Ende-gekommen-sein. Worin oder wo das Dasein als Sorgen und Besorgen, als sorgendes Miteinander-sein-in einer-Welt zu Ende kommt, ins Ziel kommt - das Besorgen als zu Ende kommen - das sind die τέλη, eine Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten der Existenz des Daseins, und, diese τέλη sind unterschieden:
„διαφορὰ δέ τις φαίνεται τῶν τελῶν τὰ μὲν γάρ εὶσιν ἐνέργειαι, τὰ δὲ παρ’αὐτὰς ἔργα τινά“.[28]
Aristoteles, so Heidegger, unterscheidet hier ganz am Anfang der Eth. Nic. die τέλη in:
α) solche, die ἐνέργειαι sind [das „Im-Werke-Sein“ selbst; vgl. Olof Gigon: Tätigkeiten]
β) und solche, die παρ’αὐτάς sind [»Werke«, die neben dem Besorgen sind und in gewisser Weise bei einem Besorgen abfallen; vgl. Olof Gigon: bestimmte »Werke« außer dem Im-Werke-Sein].
Das Verfertigen eines Schuhes (Heideggers Beispiel) wäre demnach ein τέλος im Sinne der ἐνέργεια, ein Im-Werke-sein selbst im besorgenden Umgang des Daseins. Ein Ziel des Verfertigens von Schuhen ist aber, dass sie einmal „fertig“ sind und zu ihrem Ende gekommen sind; dass sie einmal neben dem Verfertigen als „fertige“ Schuhe abfallen und wenn sie so „fertig“ sind, dann sind sie eigenständig, sie sind ein ἔργον im Sinne des Eigenständig-seins, des Vorliegens: παρ’αὑτὰς. Dann aber gibt es noch die Möglichkeit von Phänomenen, die ihr Ziel „in sich selbst“ haben; Selbstzweck sind. Z.B. wäre der gewöhnliche Spaziergang so eine Möglichkeit, der nicht aus ist auf ein Anderes seiner selbst, sondern sich erfüllt darin, dass der Spaziergang durchgeführt wird. In Eth. Nic. A1 1094a 6 sqq. werden von Aristoteles verschiedene „Besorgungen“ des Daseins angeführt: Handlungen, Künste und Wissenschaften; es sind dies Möglichkeiten des Daseins, und zwar „gehaltliche Seins-Möglichkeiten“, also wie das Dasein als Möglich-Sein in der Welt umgeht, Weisen des Besorgens der Welt.[29] Wie hängen diese Besorgungen untereinander zusammen? Gibt es eine Rangordnung oder einen Führungsanspruch, eine leitende Besorgung, die alle anderen umfängt? Aristoteles selbst spricht von Unterordnungen, dass z.B. die Sattlerei der Reitkunst untergeordnet ist[30] usw. und die στρατηγική zeigt direkt in das Dasein als Miteinandersein: in die πόλις. Immer zeigt sich so ein Zusammenhang, dass alles mit den anderen Besorgungen zusammenhängt und letztlich jene Besorgungen führend sind, die im Dasein als Dasein selbst zentrieren. Nun spricht Aristoteles in Eth. Nic. A 1, 1094 a 19 davon, dass es auch solche Ziele des Handelns gibt, die um »ihrer selbst Willen« verfolgt werden, δι’αύτό sind, solches, das nicht um eines anderen Willen erstrebt wird. Denn, wenn man immer etwas um eines anderen Willen verfolgt, dann geht man ins Unbegrenzte – εἰς ἄπειρον ἰέναι. Wäre dies der Fall, so wäre das Streben „leer und sinnlos“ (vgl. Olof Gigon). Nun liegt schon im sorgenden Weltumgang des Daseins für Heidegger die „Grenzhaftigkeit“ beschlossen: Sorgend umgehen heißt immer, auf etwas aus sein; etwas besorgen und das „Etwas“ ist und muss sein ein „Bestimmtes“, ein „Eingegrenztes“ – πέρας. Nur was schon „da ist“, was zuhanden oder vorhanden ist, kann auch als solches besorgt werden. Hier ist angezeigt, dass sich Sein als solches schon gelichtet haben muss, darin Seiendes als solches, dieses und jenes, für ein Dasein (für ein Vernehmen) entgegenstehen kann.[31] Ein Besorgen von Seiendem wäre unmöglich, wäre nicht zum Voraus (apriori) Sein als solches im Seinsverständnis des Menschen gelichtet/offenbar; wäre Sein im Ganzen nicht in der Existenz des Menschen aufgeschlossen. Es gibt nun mannigfaltige Ziele des Handelns (1094a17), Besorgungen wie Heidegger interpretiert und unter allen Besorgungen gibt es solche, die um ihrer selbst Willen – δι’αὐτό – verfolgt werden. Das „Beste“ der Ziele ist weiters jenes, das alle anderen „umfasst“ (1094a23) – kurz: „Das τέλος, das in der πολιτική zum Thema gemacht wird, muß so sein, daß es »die anderen umgreift, in sich beschließt«“.[32] Daher: Eigentliches Thema der ersten Kapitel aus Eth. Nic. ist das τέλος δι’αὐτό der πολιτική – des Miteinander-in-der-Welt-seins. Wie wird dieses τέλος δι’αὐτό näher gefasst?
Es sind nun die „Lebensformen“ – die βίοι – woran sich vermutlich zeigen wird: ἀγαθόν und εὐδαιμονία und zugleich die τέλη δι’αὑτά.
α) βίος ἀπολαυστικός, »das Leben in Vergnügen, in Genuss«;
β) βίος πολιτικός, »die Weise der Erfahrung des Lebens, die aufgeht im Besorgen, innerhalb des konkreten Daseins«;
γ) βίος θεωρητικός, »die Weise des Daseins, die charakterisiert ist durch das Betrachten«.[33]
Folgende Kriterien führt nach Heidegger Aristoteles an, die dem τέλος δι’αὑτο genügen müssen:
α) βίος ἀπολαυστικός: Diese Lebenshaltung wird durch das Streben nach der ἡδονή ausgeschöpft, das Leben in Genuss wird von den Vielen gewählt. Diese Lebensform oder Lebens-Geschichte lässt aber das Dasein als Miteinander-in-der-Welt-sein „..nicht zu ihm selbst kommen“.[36] Das Dasein wird durch die ἡδονή in die Welt weggezogen, von ihm selbst ent-fernt, zerstreut; in der Diktion von „SuZ“: das Man wird von den Angelegenheiten der Anderen bestimmt (vgl. SuZ, § 27, insbesondere 3. Absatz, EA, S. 126 sqq.). Das je eigene Sein-Können als „Eigentlichkeit“ ist von der „Un-Eigentlichkeit“ niedergehalten.
β) βίος πολιτικός: Τιμή – das ist das oberste Ziel des βίος πολιτικός. Aber: τιμἠ ist nach Aristoteles kein οἰκεῖον ἀγαθόν, sie entspricht nicht dem Kriterium des „Einheimisch-seins“, sondern ist abhängig vom Zuspruch der Anderen. Die τιμή gehört nicht zu meinem Sein selbst, sondern die Anderen verfügen über Zu- oder Absage; damit aber erfüllt der βίος πολιτικός nicht die Kriterien οἰκεῖον und δυσαφαίρετον. Das eigentliche ἀγαθόν des Daseins muss aber den eben genannten Kriterien entsprechen. Weiters ist auch die ὰρετή „unvollkommen“ (Eth.Nic. – 1095b29). Das Leben kann verschlafen werden oder man kann einfach Pech haben. Die εὐτυχία – die Gunst des Schicksals (Höffe), das Gut-Ablaufen (Heidegger) – gehört nach Heidegger zur „Eigentlichkeit“ des Daseins (vgl. SuZ: insbesondere: die modalen Existenzial-Möglichkeiten: Eigentlichkeit/Un-Eigentlichkeit; hier: F.W.v. Herrmann – Kommentar III zu SuZ, S. 46 sqq. ). Die ὰρετή als Tüchtigkeit des Daseins – oder wie sich Heidegger ausdrückt: das Verfügen über eine ganz bestimmte Möglichkeit des eigenen Seins[37] - kann vereitelt werden: man „verschläft“ sein Leben; man geht nicht in der Weise des Wachseins auf – in der πρᾶξις.[38]
Ein erstes Ergebnis der Heidegger´schen Interpretation wird im Charakter der πρᾶξις gesehen: „Deshalb ist am Ende das eigentliche ἀγαθόν des menschlichen Daseins die εὐπραξία oder εὐζωία“.[39] Die εὐπραξία, das richtige Handeln und die εὐζωία, das gute Leben – das εὖ: gut, wohl, tüchtig, recht, glücklich (Gemoll, 353) – sind bei Heidegger ein Wie des Lebens selbst[40], das ἀγαθόν ein Wie des Lebens selbst – nicht also ist damit gemeint eine erstrebenswerte Eigenschaft, die mit ausreichend Willen und Einübung erreicht werden kann, sondern das Leben selbst zeigt sich in seinem Vollzug als Leben: eigentlich oder un-eigentlich (modal) und des weiteren alltäglich oder exzeptionell (gehaltlich) (vgl. SuZ, EA, § 4) in seiner Ausgeprägtheit als Möglichkeit. Mit dem „Wie des Lebens selbst“ sind daher die Möglichkeiten des Daseins als a) Vollzugsmöglichkeiten (modal) und b) Gehaltsmöglichkeiten und c) insgesamt die „existenzialen Möglichkeiten“ (vgl. F.W.v. Herrmann – Interpret. I von SuZ, S. 116 sqq.) angesprochen.
Das ἀγαθόν als das „Gute“ ist ein „Wie des sorgenden Umgangs des Daseins in seiner Welt“ – das ἀγαθόν ist keine zu erlangende Eigenschaft, Fähigkeit oder subjektive Leistung eines Menschen, sondern ein „Seins-Charakter“ des Daseins selbst; in der Diktion von „SuZ“ wäre dieser Seinscharakter als eine Kategorie der Existenz, des Seins des Daseins, als ein „Existenzial“ angeführt. Wer sich in der εὐζωία befindet, der hat das „Glück“, die εὐτυχία; hier versteht sich das „Glück haben“ aber als Möglichkeit des Miteinander-in-der-Welt-seins, als ein fundamentales Existenzial und nicht z.B. als eine Draufgabe zu einem rechtschaffenen Leben.
Das „Gute“ ist niemals das „Gute im Allgemeinen“ (Kapitel 4 – Platon-Kritik). Das ἀγαθόν καθόλου ist „sinnlos“[41], heißt: das ἀγαθόν bleibt stets bezogen auf das konkrete Dasein als Miteinander-in-der-Welt-sein und bleibt zugleich bezogen auf den konkreten Sorgens-Aufgang in der Welt: auf die πρᾶξις.
Was können wir insgesamt aus der Interpretation Heideggers für die ersten vier Kapitel der „Nikomachischen Ethik“ gewinnen? Der Grundzug der „hermeneutischen Interpretation“ setzt das fundamentalontologische Verständnis des Da-Seins als in sich gedoppelter, selbsthaft-ekstatisch-horizontaler Seins-Erschlossenheit (F.W.v.Herrmann) voraus. Der Begriff Da-sein in fundamentalontologischer Hinsicht, so wie er im § 4 (SuZ) als „reiner Seinsausdruck“ (S. 12, 4. Absatz, EA) ausdrücklich wird, ist bereits in der frühen „Ontologie-Vorlesung“ (GA 63, Ontologie – Hermeneutik der Faktizität – S. 7 ff.) angelegt, in der Heidegger von der „Faktizität als Bezeichnung für den Seinscharakter unseres eigenen Daseins“ spricht. Die Überschrift des § 10 in GA 18 ist insofern unscharf, weil hier der Titel „Dasein“ im Sinne von existentia (scholastisch), also als wirklich sein, Wirklichkeit haben, actualitas, in actu sein, als vorhanden sein [im Gegensatz zur possibilitas, zur Möglichkeit, zur essentia, quidditas] verstanden werden kann; also gerade „nicht“ der Sinn von „Existenz“ als Seins-Art des Daseins, wie er in „SuZ“ ausformuliert wird. Existentia in der scholastischen Auffassung meint in SuZ gerade die Seinsart der „Vorhandenheit“, eine Seinsbestimmung, die dem innerweltlichen Seienden zukommt und gerade nicht dem Dasein als dem menschlichen Seienden. Die Überschrift des § 10 wäre unmissverständlicher in der verkürzten Weise: Das Dasein als ἐνέργεια: das ἀγαθόν. Es wird auch in der Folge lediglich um das „Sein des Menschen“, um die Existenz gehen und darum wie der Mensch als Dasein-in-der-Welt umgeht, wie er seinen Aufenthalt »schon« bezogen hat, wie er Halt und Stand in einer Welt gewonnen hat, wie er seine Möglichkeiten „existiert“ [besser: in seine existenzialen Möglichkeiten „hinaussteht“] – wie er – und das kann als Gesamt-Fazit gelesen werden – je schon seinen Aufenthalt als Miteinander-in-der-Welt-sein genommen hat. „Ethik“ wäre dann τὸ ἦθος – das Sich-halten als Aufenthalt-in-der-Welt. Ethik wäre dann nicht in erster Linie „Sittenlehre“ und nicht ein Teilgebiet der Philosophie als „praktischer Teil“ derselben, sondern das Sich-zeigen des Welt-Umgangs des Daseins selbst; wie es, das Dasein, konkret seinen Welt-Aufenthalt nimmt und je schon genommen hat.
Man kann freilich die Frage stellen, ob diese Interpretation nicht gewaltsam und als „typisch Heideggerianisch“ ab-zuwerten sein wird; wie ja die meisten Interpretationen der „Alten“ des Meßkirchners eher von Gewaltaktionen zeugen. Diesem Einwand halten wir nichts entgegen; lediglich ein Wort Heidegger´s sei abschließend zitiert. Es findet sich unscheinbar geklammert in GA 18 (S. 66):
„(Vielleicht sind Sie der Meinung, daß dies hineingedeutet ist in Aristoteles, aber Sie werden vielleicht später einmal sehen, daß Interpretation nichts anderes ist als Herausstellen dessen, was nicht da steht.)“[42]
LITERATURVERZEICHNIS
Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Übersetzt und eingeleitet von Olof Gigon. Zürich und
München: dtv-Artemis 1995.
Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Hrsg. von Otfried Höffe, in: Klassiker Auslegen. Berlin:
Akademie Verlag 1995.
Gemoll: Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. München – Düsseldorf – Stuttgart:
Oldenbourg 2006.
Heidegger, Martin: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie. GA 18. Frankfurt a.M.:
Klostermann 2002.
Heidegger, Martin: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität). GA 63. Frankfurt a.M.: Klostermann
1995.
Heidegger, Martin: Sein und Zeit. EA. Tübingen: Niemeyer 2006.
Höffe, Otfried: Aristoteles-Lexikon. Hrsg. von Otfried Höffe. Stuttgart: Kröner 2005.
Hoffmeister, Johannes: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Meiner 1955.
Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Band 1. Frankfurt
a.M.: Klostermann 1987.
Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Band 2. Frankfurt
a.M.: Klostermann 2005.
Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Band 3. Frankfurt
a.M.: Klostermann 2008.
Herrmann, Friedrich-Wilhlem von: Subjekt und Dasein. Grundbegriffe von „Sein und Zeit“. Frankfurt
a.M.: Klostermann 2004.
[1] Eth.Nic., in: Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, hg. und übers. von Olof Gigon, Zürich-München, 1995, 1094a17
[2] Eth.Nic. – 1094a27
[3] Eth.Nic. – 1094b19
[4] Sein und Zeit – Niemeyer – S. 43 f.
[5] Eth.Nic. – 1095b15
[6] Vgl. Die Nikomachische Ethik – Hellmuth Flashar – »Klassiker auslegen« – 65 sqq.
[7] Eth.Nic. – 1096b3
[8] Vgl. GA 18 – insbesondere § 10 – S. 65 sqq.
[9] Vgl. GA 18 – S. 43
[10] GA 18 – S. 70
[11] Vgl. F.W.v. Herrmann: »Subjekt und Dasein«, S. 21 sq.
[12] GA 18 – S. 43
[13] GA 18 – S. 39
[14] Vgl. GA 18 – S. 43 f.
[15] GA 18 – S. 65
[16] Vgl. Arist. Lex. – Höffe – S. 3
[17] Vgl. SuZ, EA, S. 54 sq.
[18] GA 18 – 65 f.
[19] GA 18 – 66 f.
[20] GA 18 – S. 67
[21] Vgl. Eth.Nic. – i.d.Ü. von Olof Gigon
[22] GA 18 – S. 68
[23] GA 18 – S. 68
[24] GA 18 – S. 68
[25] Vgl. hierzu alle Schriften von F.W.v. Herrmann (insbesondere den „SuZ“ Kommentar I, II und III)
[26] GA 18 – S. 70
[27] GA 18 – S. 69
[28] Eth.Nic. – A1, 1094a 3 sqq.
[29] Vgl. hierzu: F-W.v. Herrmann: Kommentar III [SuZ] - § 31 – S. 46 sqq.
[30] Eth.Nic. – A1 1094a 10
[31] Vgl. hierzu GA 18 – S. 72
[32] GA 18 – S. 73
[33] GA 18 – S. 74
[34] GA 18 – S. 75
[35] GA 18 – S. 75
[36] GA 18 – S. 77
[37] GA 18 – S. 78
[38] GA 18 – S. 78
[39] GA 18 – S. 78
[40] GA 18 – S. 78
[41] GA 18 – S. 79
[42] GA 18 – S. 66